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Der Assistent der Sterne

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Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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hingegen war froh, dass sich seine schlimmsten Befürchtungen nun bestätigten. Er würde sich bestimmt nie einen Vorwurf machen, wenn er morgen abreiste. Die Verhältnisse hier waren einfach grotesk. Während des Volkshochschulkurses hatte der begnadete Laie, Dirk de Kort, sich einmal, im Kreis weniger Kursteilnehmer, abfällig über De Reuse geäußert. »Ein ordentlicher Professor, der einen Volkshochschulkurs leitet? Ist das nicht merkwürdig?« De Reuse selbst hatte sein Engagement damit erklärt, dass noch nie in der Geschichte der Wissenschaft die Kluft zwischen dem Vielen, das wenige wussten, und dem Wenigen, das viele wussten, so groß gewesen sei wie heute. Man dürfe sich nicht zu schade sein, Laien die Erkenntnisse der modernen Physik näherzubringen, das sei sein Credo. Auf Jensen hatte dieses Credo damals überzeugend gewirkt, aber jetzt fiel es ihm schwer, zu glauben, dass De Reuse etwas anderes war als ein Hochstapler.
    »Sie starren mich an«, sagte Ilunga Likasi.
    Er lachte.
    »Was haben Sie denn erwartet?«, fragte er.
    Sie kam auf ihn zu, und da er am Spültrog stand, wo sie offenbar hinwollte, machte er ihr Platz. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und griff sich ein Glas aus dem Regal. Als sie den Hahn aufdrehte, floss natürlich kein Wasser, der Hahn zischte nur. Die Leitungen waren vereist, hier gabes doch allenfalls in den zwei Sommermonaten fließendes Wasser.
    »Das Mineralwasser steht da hinten«, sagte Jensen. De Reuse hatte nach der Ankunft einige Flaschen aus dem Wagen ins Haus getragen, es reichte für allenfalls fünf Tage.
    Sie öffnete eine der Flaschen, und während sie trank, ließ sie Jensen nicht aus den Augen. Sie hatte wohl erwartet, dass er sich vor ihr verkriechen würde, wie Van Gaever. Es war aber doch ihre Entscheidung gewesen, sich ihm nackt zu zeigen, und nun musste sie es sich eben gefallen lassen, dass er sie betrachtete. Unter keinen Umständen wollte er weichen. Sie trank noch einen Schluck, stellte die Flasche auf den Tisch und ging. Jensen atmete auf. Sie ging nach oben, Jensen hörte die Treppe knarren, eine Tür wurde zugeschlagen, der Spuk war vorbei.
    Jensen ging nun gleichfalls nach oben, er folgte Ilunga Likasis Parfümspur. Merkwürdigerweise erregte ihn der Duft, während ihre Nacktheit ihn nur brüskiert hatte, sonst nichts. Jensen sah den Korridor im Obergeschoss zum ersten Mal bei Licht. An der Wand zwischen den Türen zu seinem und dem Zimmer von Van Gaever hing ein Gemälde, achtzehntes Jahrhundert, schätzte er. Die Leinwand wellte, die Farben waren brüchig geworden. Die Augen der porträtierten jungen Frau wirkten dennoch lebendig, das Bösartige darin verlieh ihrem Blick eine zeitlose Frische. Die Frau trug eine spitzenbesetzte Haube und eine Kette mit einem großen, goldenen Kruzifix. Sie berührte es mit ihrem Zeigefinger, um den Betrachter von ihrer Frömmigkeit zu überzeugen. Vermutlich handelte es sich um eine von De Reuses Ahninnen. Das Bild hielt Jensen auf, er betrachtete es länger, als es der Maler verdient hatte. Alles war stümperhaft gemalt, bis auf die Augen, die einem eineunangenehme Vorstellung davon gaben, was dieser Frau zu Lebzeiten Freude bereitet hatte.
    Am Ende des Korridors fand Jensen, was er suchte, das Zimmer mit dem Satellitentelefon. Es war ein gewaltiger Apparat, völlig veraltet. Die zahlreichen Knöpfe, deren Funktion ihm unbekannt war, entmutigten Jensen. Er hatte gehofft, von hier aus nach Húsafell anrufen zu können, um herauszufinden, ob es dort ein Hotel gab oder ein Taxi, das ihn nach Reykjavík hätte bringen können. Er hätte auch gern O’Hara mitgeteilt, dass er schon in zwei oder drei Tagen wieder in Brügge sein würde. Er hätte sie darum gebeten, die Chorionzottenbiopsie um diese drei Tage zu verschieben, damit sie das gemeinsam durchstehen konnten.
    Er hob den Hörer ab, die Leitung war natürlich tot. Die Schalter waren beschriftet, für ihn waren es nur verschwommene Behauptungen: Da stand etwas, aber er konnte es nicht lesen, denn obwohl es seit zwei Jahren dringend nötig gewesen wäre, hatte er sich noch immer keine Lesebrille gekauft. Er hätte im Supermarkt inzwischen eine Tütensuppe auch dann gekauft, wenn auf der Rückseite der Packung gestanden hätte: ZUTATEN WASSER, CADMIUM, BIOLOGISCH ERBROCHENES.
    Jensen starrte den Apparat an. Er schaltete sein Handy ein, und obwohl er natürlich wusste, dass es hier kein Netz gab, klammerte er sich dennoch an die Hoffnung, dass es vielleicht doch

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