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Der Assistent der Sterne

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Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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werden bemerken, dass wir nicht vollzählig sind«, sagte er. »Die Dame fühlt sich nicht wohl. Sie hat es vorgezogen, auf ihrem Zimmer zu bleiben. Sie wird später für uns kochen.«
    »Sie wird für uns kochen«, wiederholte Jensen. Er drehte sich zu Van Gaever um, der aber nicht zu erfassen schien, wie grotesk, wie pfadfinderhaft das alles hier war.
    »Ja«, sagte De Reuse. »Es wird eine Weile dauern, bis sie ihren Platz gefunden hat. Aber dann wird sie ein vollwertiges Mitglied unseres kleinen Seminars sein. Jensen, ich möchte Ihnen jetzt eine Frage stellen. Wie funktioniert eine Glühbirne?«
    »Mittels eines Drucks des menschlichen Fingers auf den Schalter«, sagte Jensen, aber da ihm seine Opposition nun selber pfadfinderhaft vorkam, fügte er die korrekte Antwort hinzu: »Ein elektrischer Leiter wird erhitzt, bis er kurzwellige thermische Strahlung emittiert. Wir benötigen dazu einen Stromfluss. Offensichtlich ist dieses Haus an kein Elektrizitätsnetz angeschlossen, aber irgendwo steht ein Generator, nicht wahr?«
    »Im Schuppen«, sagte De Reuse. »Und Sie, Jensen, werden den Generator in Betrieb nehmen. Sie sind verantwortlich dafür, dass wir hier das Wunder der kurzwelligen thermischen Strahlung erleben. Und Sie, Van Gaever, Sie kümmern sich um die Wärme. Es ist kalt hier drin. Ich möchte gern meinen Anorak ausziehen. Sie wissen doch, dass Wärme die Entropie erhöht?«
    »Die Entropie?« Van Gaever warf Jensen einen Blick zu, als bitte er um eine Einflüsterung. »Entropie«, sagte er schließlich, »ist das Maß für die Unordnung eines Systems. Je höher die Entropie, desto höher die …«
    »Das lasse ich gelten«, sagte De Reuse. »Und jetzt gehen Sie bitte in den Keller. Sie werden dort einen Ölbrenner finden. Sie brauchen nur den Knopf zu drücken, dann sollte er anspringen. Was ist ein Knopf, Van Gaever?«
    »Ein Knopf?«
    »Das war nur ein Scherz.«
    »Ich verstehe«, sagte Van Gaever. »Und wo ist der Keller? Diese Tür dort?«
    »Ja. Aber geben Sie acht, die Stufen sind morsch. Es ist jetzt überhaupt wichtig, dass jeder sich völlig im Klaren darüber ist, wo wir sind. Das hier ist nicht Belgien, das ist Island. Und zwar das ursprüngliche, ländliche Island. Es darf hier keine Unfälle geben. Arzt, Krankenhaus, das alles können Sie vergessen. Es würde im Notfall viel zu lange dauern, bis Hilfe hier wäre. Jeder muss seine Arbeit also mit größter Vorsicht und zuverlässig erledigen. Von jetzt an bis zum Ende des Seminars sind Sie, Jensen, dafür verantwortlich, dass die Elektronen fließen. Das beinhaltet auch die Wartung des Generators. Ich werde Ihnen dabei selbstverständlich helfen, falls es Sie überfordert. Und Sie, Van Gaever, ohne Sie werden wir hier frieren. Die Temperaturen sinken nachts unter zehn Grad minus. Bringen Sie die Atome in Schwingung, Van Gaever, durch Zuführung thermodynamischer …«
    Jensen hörte nicht mehr zu.
    Das Satellitentelefon, dachte er.
    Er musste als Erstes herausfinden, ob es hier tatsächlich eines gab oder ob De Reuse auch in dieser Hinsicht gelogen hatte. Und die Lüge war hier ja der fünfte Gast. Das versprochene Privatseminar über Phänomene der Quantenphysik entpuppte sich als Überlebenstraining. Wartung des Generators. Durchwachte Nächte auf einer verlausten Matratze. Und morgen unterzog O’Hara sich der Chorionzottenbiopsie, einem Test, der über Leben und Tod eines Kindes entschied, meines Kindes, dachte Jensen. Abhängig vom Ergebnis würde O’Hara eine Entscheidung treffen, während er hier in den verschneiten Weiten Islands mit ölverschmierten Händen eine Glühbirne zum Leuchten brachte.
    »Das, meine Herren, ist gelebte Physik«, sagte De Reuse.
    »Gelebte Physik«, sagte Jensen, »war das, worunter in der Steinzeit alle litten. Sie sagten, es gebe hier ein Satellitentelefon. Wo finde ich es?«
    »Oben. Im Zimmer am Ende des Gangs. Es ist allerdings fraglich, ob es noch funktioniert. Mein Großvater hat es gekauft. Und er ist vor fast dreißig Jahren gestorben. Item. Sie werden sich jetzt bestimmt fragen, was denn meine Funktion ist. Nun, ich bin das Hausmädchen. Ich werde, sobald ich hier ohne Taschenlampe etwas sehen kann, Jensen, den Boden wischen und Ihre Betten beziehen. Außerdem werde ich, solange meine Assistentin noch schmollt, als stellvertretender Koch fungieren.«

    Jensen trat vors Haus, die Taschenlampe, die De Reuse ihm überlassen hatte, fraß eine Schneise in die Dunkelheit. Der Wind verbiss sich in

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