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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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Tröpfchen Wasser. Mehr verlangte der Käfer gar nicht.
    Die Müdigkeit drückte Jensen die Lider zu. Mit verschränkten Armen hockte er im Sessel. Wäre er jetzt gestorben, würde es Stunden dauern, bis jemand seine Leiche entdeckte. Erst am nächsten Tag würde ein Zimmermädchen ihn am Arm berühren, in Erwartung des Schlimmsten.
    Der Darm, dachte er, erschlafft, der letzte Stuhlgang geht ab.
    Den Sessel hätte man wegwerfen müssen.
    Jensen vergegenwärtigte sich seine Beerdigung, ein Anlass ohne Publikum. Zwei, drei Leute vielleicht. Seine Schwestern vielleicht, vielleicht Stassen, sein ehemaliger Kollege. Sicher war nur der Tod, aber nicht, wer am Begräbnis teilnahm. Waren die Schwestern erbberechtigt? Wer eigentlich erbte das Vermögen, das ihm Margarete vermacht hatte?
    Es ist schon so lange her, dachte er.
    Er hatte ihr Grab seit Monaten nicht mehr besucht.
    Jensen öffnete die Augen. Er stand auf und schaltete die Stehlampe ein.
    An Margarete durfte er jetzt nicht denken. Er versuchte, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Das Wesentliche war die Einsamkeit. Über sie lohnte es sich nachzudenken. Er zog die Vorhänge auf, schaltete die Lampe wieder aus und ging im Zimmer auf und ab. Einsamkeit war letztlich ein physikalisches Phänomen. Kurz nachdem das Universum zu existieren begonnen hatte, waren die ersten Materieteilchen entstanden, und zwar stets paarweise: ein Teilchen und sein Antiteilchen. Diese Paare vernichteten einander sofort nach ihrer Erzeugung gegenseitig, übrig blieb nur Strahlung. Aber weil damals unvorstellbar viele Teilchen entstanden, kam es zu einer statistischen Unregelmäßigkeit: Eines unter einer Milliarde Teilchen wurde ohne Partnerteilchen erzeugt. Während alle anderen Teilchen sich ihrer Bestimmung gemäß paarweise in einem Strahlungsblitz auflösten, flog dieses Teilchen einsam durch die Weiten des fast vollständig leeren Raums. Es suchte nach seinem Partner, aber es gab keinen. Dadurch entging es zwar der Vernichtung, aber seine Existenz hatte von Anbeginn an etwas Melancholisches. Auf seinem Weg durch den Raum traf es auf andere Teilchen, die wie es auch Opfer der statistischen Schwankungen geworden und gleichfalls partnerlos geblieben waren. Diese Einzelgängerbildeten nun Gemeinschaften, Banden, ähnlich wie junge Männer ohne Freundin. Sie schlossen sich zu Atomen zusammen, später zu Molekülen, sodass heute alles, was im Universum existierte, einschließlich des Menschen, sich aus jenen einsamen, miteinander kooperierenden Teilchen zusammensetzte. Es war, als ob diese einzelgängerischen Teilchen ihre fundamentale Unvollständigkeit durch die Bildung immer komplexerer Gemeinschaften zu kompensieren versuchten. Eukaryoten, dann Pantoffeltierchen, Mollusken, Wirbeltiere, schließlich das menschliche Gehirn: alles nur das Ergebnis von Bandenbildung alleinstehender Teilchen.
    Das Wappentier des Universums ist der einsame Wolf, dachte Jensen.
    In diesem Augenblick klopfte sie an die Tür.

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    8
    S ie schlug die Beine übereinander, ihre Strümpfe knisterten. Jensen wurde bewusst, dass ein Hotelzimmer in erster Linie ein Schlafzimmer war. Sie saß in seinem Schlafzimmer, und der Spannteppich lud ihre Strümpfe elektrostatisch auf. Sie fragte ihn, ob er ein Alkoholproblem habe. Sie hatte eine Flasche Champagner und zwei Gläser mitgebracht, aber da es erst drei Uhr war, hatte Jensen die Hand über sein Glas gehalten. Sie sagte, sie fliege morgen ab und habe sich von ihm verabschieden wollen. Sie hatte geduscht, ihre Haare waren noch feucht, sie hatte sie nachhinten gekämmt, es wirkte sportlich. Jensen befürchtete, dass sie in derselben Maschine wie er noch einen Platz gefunden hatte. Das war aber nicht so. Sie sagte, sie fliege via Stockholm. Sie trug elegante Abendschuhe mit spitzen Absätzen und koketten Riemchen, die sich über dem Fußrücken kreuzten. Warum nicht?, dachte Jensen. Jede Regel musste hin und wieder gebrochen werden, erst dadurch gewann sie wieder an Kraft. Er sagte, er trinke jetzt doch ein Glas. Sie goss ihm ein, viel zu brüsk, der Schaum lief über. Sie lachte und leckte den Schaum von seinem Glas. Wenn er jetzt aus diesem Glas trank, würde sie das als Einverständnis deuten. Er sagte, er sei gleich zurück. Er holte im Badezimmer Papiertücher. Damit wischte er zuerst den Tisch, dann sein Glas sauber, bevor er es in einem Zug leerte. Sie fragte, ob sie rauchen dürfe. Wieder ging er ins Badezimmer, er brachte ihr ein mit etwas Wasser

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