Der Assistent der Sterne
aber schließlich gab er nach und ließ sich von ihr auf den Boden ziehen. Sie wälzten sich über den Spannteppich, aber da sie sich in ihrer Umarmung gegenseitig erdeten, konnten sie sich schmerzlos küssen. Jensen fühlte sich leicht und frei, aller Verantwortung enthoben. Denn dieses Ereignis, das stand fest, würde sich nie wiederholen; es war einmalig, es würde weder Reue noch Geständnisse geben. Zwei Fremde nahmen sich alles, was es zu nehmen gab. Es war, als würden sie sich gegenseitig ausplündern, um danach, jeder für sich, mit der Beute in der Dunkelheit zu verschwinden.
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9
N ach einer langen und umständlichen Heimreise stieg Jensen in Brügge aus dem Zug, es war kälter als tagsüber in Island. An der Dachrinne des Bahnhofsgebäudes hatten sich Eiszapfen gebildet, die Leute blieben vor der Absperrung stehen und schauten zu, wie zwei Männer von einem Fenster im obersten Stockwerk aus die Eiszapfen mit Spatenstilen herunterschlugen. Eiszapfen bekam man in Brügge selten zu sehen, auch Jensen schaute sie sich kurz an, bevor er in ein Taxi stieg und sich zum De Tuilerieën fahren ließ.
»Der kälteste Winter seit hundert Jahren«, sagte der Chauffeur.
»Seit vierundfünfzig Jahren«, sagte Jensen.
»Ach so. Ich dachte, Sie seien von auswärts.«
»Nein, ich wohne hier.«
Der Chauffeur runzelte die Stirn.
»An der Timmermansstraat. Aber im Augenblick wohne ich im Hotel. Mein Haus wird umgebaut.«
»Jetzt im Winter?«, fragte der Chauffeur.
»Ja, jetzt im Winter«, sagte Jensen. »Ich lasse mir einen Kamin einbauen. Winter, Kamin, das passt für mich zusammen.«
Der Chauffeur nickte.
Ist das Verhör damit beendet?, dachte Jensen.
Verärgert blickte er zum Fenster hinaus. Die Stadt kam ihm fremd vor. Die niedrigen Häuser, die engen Straßen, er fand es bedrückend. Er fragte sich, warum er eigentlich hier lebte. Beruflich war er an Brügge nicht mehr gebunden, seine Physikbücher konnte er überall lesen, in der Karibikbeispielsweise, in einer ans lokale Stromnetz angeschlossenen Hütte am Meer. Nur sein Haus und O’Hara hielten ihn in Brügge fest. Das Haus hätte er verkaufen können, und O’Hara hielt ihn an einer sehr langen Leine, sie reichte um die ganze Welt.
Du wanderst aus? In die Karibik? Ich wünsche dir viel Glück, Adieu.
Sie fuhren am Dijverkanal entlang, im Schritttempo, der Fahrer nieste in die Hand.
Ein werdender Vater, der im Hotel wohnt, dachte Jensen.
In irgendeinem Labor stellte vielleicht in diesem Moment ein Biologe das Okular seines Mikroskops scharf, um das Gewebe oder die Flüssigkeit oder was immer sie aus O’Hara entnommen hatten, auf eine Chromosomenschädigung zu untersuchen. Falls der Biologe nichts entdeckte, würde das Kind in fünf Monaten im Sint-Jan-Krankenhaus zur Welt kommen, draußen vor der Stadt. An nebligen Tagen hüpften dort die Krähen über die abgeernteten Felder.
»Das wär’s«, sagte der Chauffeur. »Macht acht Euro fünfzig.«
Achtundfünfzig, dachte Jensen. In sieben Jahren schon war das Kind alt genug, um sich für den grauhaarigen Vater zu schämen, der es am Einschulungstag ins Klassenzimmer begleitete, zusammen mit der blinden Mutter, nach der sich die anderen Eltern umdrehten: Die zieht ein Kind auf? Eine Blinde? Wie verantwortungslos!
Falls wir das Kind überhaupt gemeinsam in die Schule begleiten, dachte er. Vielleicht hielt es ja auch nur ein Foto von ihm in den Händen: Das ist mein Vater. Er lebt in der Karibik. Ich habe zwei Mütter, Annick und …
Wie hieß die Haushälterin schon wieder?
Trees.
»Acht fünfzig«, wiederholte der Chauffeur.
»Ja«, sagte Jensen. »Das ist mir bewusst.«
Er zahlte, stieg aus und trug seinen Koffer ins Hotel.
Verantwortungslos, dachte er. Kinder waren an nichts so sehr interessiert wie an Unauffälligkeit. Aber dieses Kind hatte von vornherein keine Chance, unauffällig aufzuwachsen, nicht mit einer Mutter, die nach ihm tastete, und einem Vater, der die im Internet aufgelisteten Symptome der Daumensattelarthrose an sich selbst entdeckte.
Van der Elst richtete sich hinter der Rezeption auf, um Jensen zu begrüßen.
»Schön, Sie wieder bei uns zu haben«, sagte er und wurde rot.
Wie alt mochte Van der Elst sein? Zwanzig?
So alt müsste dein Kind jetzt sein, dachte Jensen, nicht erst in zwanzig Jahren.
Es geschah alles mit grotesker Verspätung. Und keineswegs lebte man heutzutage länger als in vergangenen Epochen: Man war nur länger alt. Was das bedeutete, würde
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