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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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gedauert. In zwei Stunden müssten sie also die Ringstraße erreichen, die isländische Lebensader, die sich in Küstennähe um die Insel schlängelte. Das Navigationsgerät zeigte jedoch eine Position an, die zu weit östlich lag, so als würden sie in die Richtung fahren, aus der sie gekommen waren: ins Landesinnere, weg von der Lebensader.
    »Mit dem Gerät stimmt etwas nicht«, sagte Jensen. »Wir sind doch immer in westlicher Richtung gefahren. Sehen Sie, wir waren hier.« Jensen deutete auf den Bildschirm. »Jetzt soll aber plötzlich das unsere Position sein. Hier. Fast in der Mitte der Insel.«
    Sie riss ihm das Navigationsgerät aus der Hand.
    »Ich scheiße darauf«, sagte sie. Sie warf das Gerät aus dem Fenster.

    Die Scheinwerfer zeigten seit Stunden dasselbe Bild. Schnee, aus dem manchmal Steine hervorragten. Und es wollte einfach nicht hell werden, der Sonne war der Weg zu dieser verfluchten Insel zu weit. Der Benzinanzeiger stand in der linken, der schlechten Hälfte. Das im Armaturenbrett eingebaute Thermometer maß eine Außentemperatur von minus zwölf Grad. Jensen war jetzt jeder Anlass recht, um in pessimistischen Gedanken zu versinken. Dass es da draußen so kalt war, konnte niemanden erstaunen: Menschen waren, kosmologisch gesehen, Geschöpfe der Kälte. Denn mit dem Wachstum des Universums war eine Abkühlung verknüpft.Der Raum wuchs, aber nicht die in ihm enthaltene Temperatur. Man konnte es mit einem Zimmer vergleichen, das von einem einzigen Radiator beheizt wurde. Solange das Zimmer seine Größe behielt, war es darin angenehm warm. Wenn das Zimmer sich aber zur Größe einer Galaxie ausdehnte, verlor sich die Wärme des Radiators in der unendlichen Weite. Genau das war geschehen. Die Temperatur des Universums, dieses kurz nach seiner Entstehung unvorstellbar heißen Ortes, lag heute knapp über dem absoluten Nullpunkt. Und erst in dieser Phase der fast vollkommenen Abwesenheit von Wärme war das Leben entstanden, was eigentlich sehr merkwürdig ist, dachte Jensen. Man war es gewohnt, Lebewesen als wärmeliebend zu betrachten, aber in Wirklichkeit waren sie im Universum erst aufgetaucht, als dieses, obwohl noch im Babyalter, bereits der denkbar kälteste Ort geworden war. Auf der Erde herrschte eine Temperatur von durchschnittlich fünfundzwanzig Grad, das war lächerlich verglichen mit der Hitze, die im Universum lange Zeit geherrscht hatte. Die Erde war ein Eiswürfel, der sich in einer Tiefkühltruhe um eine Kerzenflamme drehte. Dem Menschen genügte dieses bisschen Wärme nur deshalb, weil er ein Produkt der Kältephase des Universums war, ein Wesen, das mit den eisigen Tiefen des Alls viel näher verwandt war als mit der Hitze eines Feuers.
    »Soll ich Sie ablösen?«, fragte Jensen.
    Sie schüttelte den Kopf.
    Jensen blickte hinaus in die stumpfe Dunkelheit, in der die Scheinwerfer des Wagens verloren wirkten wie Flaschenpost.
    Ein stumpfer Ärger stieg in ihm hoch, Ärger auf alles. Das Leben ein Haufen Mykonium, der Mensch ein Wesen des Frosts, und dann noch diese Insel! Die ersten Bewohner Islands waren selbstverständlich nicht freiwillig hierhergekommen; ein norwegischer König hatte sie auf Schiffe geprügelt und kräftig in die Segel gepustet. Dass die Vertriebenen ihre Zwangsheimat Eisland tauften, ließ die Verzweiflung erahnen, die sie bei der Vorstellung überkam, dass sie hier begraben werden würden. Es war eine Gefängnisinsel, von der sich nur jene nicht wegwünschten, die nichts anderes kannten.
    »Soll ich Sie wirklich nicht ablösen?«, fragte er. »Sie sehen müde aus. Sie sollten ein wenig schlafen.«
    Sie schaute ihn an.
    »Nein. Ich werde fahren. Und Sie schlafen. So machen wir das.«

    Als Jensen erwachte, blickte er in mattes Licht. Am Horizont glühten Wolken in der aufgehenden Sonne. Die Wagentür stand offen. In der Ferne sah Jensen jemanden die Arme über dem Kopf schwenken. An ihrem weißen Mantel erkannte er, dass es Ilunga Likasi war. Er stieg aus dem Wagen, er trat auf vom Wind gekämmtes Gras, und er roch das Meer. Sie hatten also tatsächlich die Küste erreicht, mit dem letzten Tropfen Diesel. Jensen bekreuzigte sich. Es war nur der Ausdruck einer an niemanden adressierten Dankbarkeit.
    Zwei junge Männer begleiteten Ilunga zum Wagen zurück, jeder von ihnen trug einen Kanister. Die beiden sprachen ein schwer verständliches Englisch. Sie sagten, sie seien Lehrer und auf dem Weg zur Schule. Vielleicht sagten sie auch, sie seien Fischer und auf dem

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