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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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aufgehalten zu werden. Auch in alten Autos verengten sich eben mit der Zeit die Schläuche.
    Jensen entnahm dem kleinen Schlüsselschrank, der neben dem Kühlschrank hing, den Schlüssel zum Heizungsraum und stieg hinunter in den Keller. Die Kälte hier war eine andere, schärfer und verbrauchter. Im Heizungsraum betrachtete er die Apparatur. Mehr konnte er nicht tun. Schläuche, Symbole, ihm alles ein Rätsel. Es roch nach Dieselöl. Im Tank nebenan wartete es vergeblich auf seine Verbrennung. Der einzige Schalter, über dessen Funktion Jensen Bescheid wusste, war der zum Ein- und Ausschalten der Heizung. Jensen drückte den Schalter auf 0, dann wieder auf 1. Er wiederholte das mehrmals, es war im Wesentlichen eine magische Handlung. Danach blätterte er in der Betriebsanleitung der Heizung. Zwischen den Seiten entdeckte er einen Zettel mit der Nummer eines Heizungsmonteurs. Es war Margaretes Handschrift, nur Zahlen, dennoch erschütterte ihn diese plötzliche Präsenz. Es war, als hätte Margarete den Zettel gestern erst in das Heft gelegt. Die Schrift wirkte noch frisch; die Bögen, der Schwung, darin hatte sich Margaretes Lebendigkeit erhalten.
    Margarete.
    Sie hatten geheiratet, und zwei Monate später hatte sieihm an seinem Geburtstag ein einziges Geschenk neben den Teller gelegt. Ein kleines, gewichtsloses Geschenk, verpackt in blaues Seidenpapier. Es war so leicht und dünn gewesen, dass Jensen an einen Scherz geglaubt hatte. Er hatte das Seidenpapier aufgerissen und nicht gleich erkannt, was darin steckte; auf den ersten Blick sah das, was er in den Händen hielt, aus wie das Foto einer stark verschmutzten Windschutzscheibe, nachdem der Scheibenwischer darübergestrichen war. Das ist unser Kind, hatte sie gesagt. Ich war vorgestern beim Arzt.
    Dann kam der Sommer.
    Margarete saß im Sand, der laue Wind schob kleine Wellen an den Strand von Oostende. Schach, sagte sie. Jensen musste seine Dame opfern. Kinder warfen sich über ihre Köpfe hinweg einen roten Ball zu, sie mussten sich ducken, sie lachten über die kleine Unverschämtheit. Jedes Kind am Strand betrachteten sie voller Vorfreude und Neugier. Neben dem Schachbrett stand die Coladose schief im Sand, und Jensens einzige Sorge war, dass das Getränk warm werden könnte, bevor sie ihren Durst gestillt hatten. Er riss den Bügel weg, drückte das Aluminiumplättchen hinunter und trank als Erster. Die Wespen tanzten um einen Abfalleimer in der Nähe, aber das war zu gewöhnlich, niemand hätte darin eine Warnung gesehen. Trink, forderte er Margarete auf, und sie nahm einen Schluck und drückte die Dose wieder in den Sand, damit sie nicht umstürzte. Das Gesetz der Wahrscheinlichkeit zog eine haarfeine Linie zwischen Tod und Leben: Der rote Ball der Kinder verfehlte die Dose um weniges. Aber noch immer war nichts entschieden. Günstige Wendungen hätten den ungünstigen entgegenwirken können. Die Strandballspieler erschlugen oft Wespen, die in Reichweite des Schlägers gerieten. Diesmal taten sie es nicht. Eine grausame Beliebigkeit, letztlich war es das.Die Cola wird warm, sagte Jensen. Banales führte in der Beliebigkeit, mit der die Dinge geschahen oder nicht geschahen zum Tod eines Menschen, den man über alles geliebt hatte. Eine Wespe, die in die Luftröhre geriet und zustach, einem blinden Instinkt folgend; Gewebezellen, die sich in einer simplen biochemischen Reaktion aufblähten. Das Kind, das im Mutterleib erstickte. Das doppelt begrabene Kind, es lag in der Mutter im Sarg.
    Jensen legte den Zettel in die Betriebsanleitung zurück und dann trat er mit dem Fuß gegen die Schutzabdeckung des defekten Heizbrenners, voller Wut auf Trees Lachaert. Diese Frau glaubte allen Ernstes, das Universum kenne bereits das Schicksal ihrer Tochter und habe jetzt nichts Besseres zu tun, als sämtliche Weichen zu stellen, damit das mit Trommeln und Trompeten angekündigte Ereignis auch wirklich eintraf! Sie glaubte an Vorbestimmung, also daran, dass die Zukunft eines Menschen bereits feststand. Das aber war ein unerträglicher Gedanke. Dem einen wäre es vorbestimmt gewesen, nach einem Leben in Hunger und Elend von Folterknechten unter unsäglichen Schmerzen in den Tod gequält zu werden, während die Zukunft für den anderen bereits von vornherein den friedlichen Exitus im hohen Alter vorsah, ein sanftes Entschlummern nach einem Leben in Wohlstand. Das Universum hätte folglich den einen bevorzugt behandelt und den anderen bestraft. Wer so dachte, beleidigte den

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