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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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Kosmos! In Wahrheit ließ sich das Universum von der Selbstüberschätzung der Menschen nicht beeindrucken, es war zutiefst egalitär: Es machte keinen Unterschied zwischen einem Kohlenstoffatom, der Tochter einer Haushälterin und einer Wespe am Strand von Oostende. Allem, das existierte, kam im Universum exakt dieselbe Bedeutung zu, nämlich die größtmögliche oder keine, je nachdem, wie man es sehen will, dachte Jensen,während er die Kellertreppe hochstieg. Und weil die Existenz einer Wespe dem Universum exakt gleich wichtig war wie das Leben einer schwangeren Frau, gab es auch keine Privilegien für Liebende: Niemand wurde bevorzugt, und folglich konnte es für niemanden einen individuellen Plan geben, ein Schicksal, eine Vorsehung. Das alles existierte nur in der Einbildung des Menschen, der das eitelste aller Geschöpfe war, und der die Unbestechlichkeit des Universums deshalb als Zumutung empfand. Schlimmer noch: Er verwechselte sie mit Gleichgültigkeit, mit Teilnahmslosigkeit.
    Jensen setzte sich in die Küche. Im Wohnzimmer hämmerte der Hafner, das Radio plärrte, Jensen hörte die Gehilfin einen Schlager mitsingen, es klang, als würde jemand eine Geschichte falsch nacherzählen.
    Wie alle Menschen, dachte Jensen, ahnt auch Trees Lachaert, dass ihr Leben nicht mehr Gewicht hat als das einer Wespe. Diese Ahnung hatte sie zu Lulambo getrieben. Trees Lachaert sehnte sich nach Bedeutung, nach einer in den Sternen festgeschriebenen Biographie mit dem Titel TREES LACHAERTS SCHICKSAL. Und wenn dieses Schicksal schrecklich war, stieg dadurch noch die Bedeutung, die es dem eigenen Leben verlieh; alles war erträglicher als die Einsicht, dass der Kosmos keinerlei Notiz von einem nahm. Aber im Schweigen des Universums lag doch gerade das Wunder!
    Und der Trost, dachte Jensen.
    Das Universum beachtete den Menschen nicht, weil es aus einem einzigen unendlich kleinen und unvorstellbar dichten Punkt reiner Energie entstanden war. Die Vielfalt, die man heute, Milliarden Jahre danach, nur schon sah, wenn man in den mit unabgewaschenem Geschirr gefüllten Spültrog blickte, all diese schmutzigen Gabeln, Messer,Untertassen, Suppenteller, all das hatte seinen Ursprung in jenem unvorstellbar dichten Punkt. Die Form einer Gabel unterschied sich von der eines Suppentellers so markant, dass man unweigerlich annahm, es handle sich um zwei grundverschiedene Dinge. Tatsächlich bestand aber beides und überhaupt alles im Universum aus demselben Stoff: aus Energie. Natürlich war es furchtbar, unerträglich, dass eine niedrige Kreatur, eine beschissene kleine Wespe, dachte Jensen, einem alles nahm: die Frau, die man geliebt hatte, die gemeinsame Zukunft, das Kind … es war ein Hohn. Aber man musste versuchen, es mit anderen Augen zu sehen: Die Wespe und Margarete waren dasselbe gewesen, Energie, wie alles andere auch. Wenn das Universum kalt und teilnahmslos wirkte, dann nur deshalb, weil es so schwierig war, wirklich zu begreifen, dass es nur diese eine Energie gab, und dass es im Universum folglich keine Hierarchie geben konnte.
    Ich war die Wespe, dachte Jensen.
    »Mist«, sagte die Gehilfin. Sie wedelte den Rauch der Zigarette weg, die sie sich gerade angezündet hatte. »’tschuldigung. Ich wusste nicht, dass Sie noch hier sind.«
    »Schon gut«, sagte Jensen. »Ich wollte sowieso gleich gehen.«
    »Sie weinen ja«, sagte die Gehilfin.
    »Ich bin allergisch auf Rauch. Und wegen der Heizung: Ich werde einen Monteur anrufen.«
    Wie ein ertappter Einbrecher verließ er sein eigenes Haus. Er eilte durch die Timmermansstraat, von einer Dachrinne rutschte Schnee. Die kleine, baufällige Jerusalemkirche am Ende der Straße schien wie ein im Packeis festgefrorenes Schiff auf Rettung zu warten. Über ihr, am steingrauen Himmel, kreisten Möwen, in ähnlich unentschlossener Weise wie gleich darauf die Politesse, die um Jensens Wagen herumstrich, den er in der Nähe der Ringstraße geparkt hatte. Jensen grüßte sie knapp, setzte sich hinein und fuhr los, eine Minute vor Ablauf der Parkzeit.
    Seinen Dienstausweis hatte er dabei. Er hätte ihn eigentlich niemandem mehr zeigen dürfen; es erfüllte den Tatbestand der Amtsanmaßung, er hatte den Dienst ja quittiert. Aber für Pierre Lulambo würde er eine Ausnahme machen.

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    E s gab Orte, an denen Jensen nicht ungern gestorben wäre. In Konstanz am Seeufer, an einem warmen Sommerabend, wenn mildes Licht in den Blättern glänzte. In Brügge am Dijverkanal, im Frühling,

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