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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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wenn die Entenküken über die Spiegelung der alten Kaufmannshäuser glitten. Oder in Berlin zu jeder Jahreszeit im Pergamonmuseum unter dem Gigantenkampf-Fries, der einen daran erinnerte, dass vor einem schon sehr viele andere gestorben waren und es sich folglich um einen gewöhnlichen Vorgang handelte.
    Außer, man starb in Antwerpen.
    Seit jeher empfand Jensen gegen diese Stadt eine innige Abneigung. Seine Aufenthalte waren stets mit der beklemmenden Vorstellung verbunden, hier vom plötzlichen Hirntod oder einem Infarkt niedergestreckt zu werden. Die Hölle hätte sich aufgetan, und nach einem langen Sturz wäre er in Antwerpen wieder erwacht, als Schatten unterSchatten. Er wäre durch verschiedene Existenzen gestolpert, hätte als Flame in der Hafenverwaltung gearbeitet, als Jude im Edelsteinhandel, als Marokkaner im Putzdienst. Als Flame hätte er die Marokkaner und Juden verachtet, als Jude die Inder und Russen, die sich im Edelsteingeschäft breitmachten, als Inder wäre ihm nur eine indische Frau gut genug gewesen, und als Kongolese hätte er sich aus dieser starren Stadt weggewünscht, denn sie konnte niemandem eine Heimat sein, dazu war sie zu segmentiert, in marokkanische, flämische, indische Reviere aufgeteilt, durchzogen von heimlichen Grenzen. Sie war ein erkalteter Schmelztiegel, ein braune Zwergsonne, der die nötige Masse fehlte, um zu leuchten und die Separatisten zu einer Einheit zu verschmelzen.
    Und so weiter, dachte Jensen. Sein Lamento über Antwerpen ging ihm auf die Nerven. Jedes Mal, wenn er hier war, diese Klagen! Genau genommen wäre es nicht schrecklicher gewesen, in Antwerpen zu sterben als vor dem Fernseher während einer Werbesendung für Windeln.
    Er parkte den Wagen in der Nähe des Bahnhofs. Es war noch kälter als in Brügge, was aber bestimmt auf seiner Abneigung beruhte.
    Nach kurzer Suche entdeckte er in der Bisschopstraat an einem Klingelschild einen aufgeklebten Papierstreifen mit der Aufschrift »P. Lulambo«. Das Haus neigte sich zwischen den angrenzenden Häusern ein wenig nach vorn, so als sei es im Stehen eingenickt. Nebenan befand sich ein Reisebüro, für die vielen, die hier das Heimweh plagte. Das Schaufenster war zugepflastert mit Städtenamen: Lagos, Lome, Luanda, Islamabad. Die Flamen flogen nach Spanien.

    Der Korridor war schmal und dunkel. Es roch nach orientalischen Gewürzen. Düfte setzten sich aus Molekülen zusammen, und es war eine seltsame Erfahrung, dass einem Moleküle fremd sein konnten.
    Die Treppe knarrte, sie war außergewöhnlich steil, Jensen geriet außer Atem, eine Folge seines Selbstbetrugs. Seit fünf Jahren behauptete er, wenn ihn jemand fragte, was selten vorkam, dass er jeden dritten Tag eine Stunde lang jogge. In Wahrheit kam ihm an diesen dritten Tagen regelmäßig etwas dazwischen, sei es ein starker Regen, eine unzumutbare Kälte, eine ungewöhnliche Hitze oder eine plausible Ausrede. Als er im dritten Stock kurz stehen blieb, um sein Herz zu schonen, gestand er sich ein, dass nicht schon allein die Absicht, Sport zu treiben, einen günstigen Einfluss auf die Gesundheit hatte.
    Lulambo wohnte zuoberst, in der Mansarde. Winzige Eiszapfen hingen an den Schindeln, mit denen das Dach unterlegt war. Jensen klopfte an die Tür, sie öffnete sich. Das Schloss war offenbar defekt. Durch den Türspalt konnte Jensen die eine Seite des Flurs sehen. Zwei Türen. Er hörte die Toilettenspülung. Kurz darauf zwängte sich ein Mann aus der Toilette. Er musste sie seitlich verlassen und dabei den Kopf einziehen; er war zu groß und zu dick für den kleinen Raum. Er zog die Hose hoch und ging dann mit ausgestreckter Hand auf Jensen zu.
    »Ich heiße Victor. Victor Opango.« Er trug Wollhandschuhe, sie fühlten sich feucht an.
    »Und Sie sind Herr Vermeiren.«
    Sein Lächeln war überwältigend.
    »Mein Name ist Jensen.«
    »Macht nichts«, sagte Opango. »Auch Sie sind willkommen. Er sagte mir, dass ein Herr Vermeiren kommen wird. Aber ich bin ja nicht sein Assistent. Ich wohne hier nur. Ist es Ihre erste Konsulation?«
    »Ja.«
    »Ich werde ihm sagen, dass Sie da sind. Aber ich bin mir nicht sicher, ob er Sie jetzt empfangen kann. Er ist noch sehr niedergeschlagen. Wahrscheinlich …«
    Victor Opango hielt sich die Hand vor den Mund und rülpste.
    »Das ist wegen des Biers«, sagte er. »Entschuldigung. Haben Sie es gehört?«
    »Was?«
    »Das Spiel. Ghana gegen Nigeria. Im englischen Radio ist es live übertragen worden. Nigeria«, sagte Victor

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