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Der Assistent der Sterne

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Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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Straßenverkehrsordnung, trotz allem.«
    O’Hara saß im Krankenwagen an Trees Lachaerts Bahre, ein Apparat piepste, das Herz schlug noch.
    »Kann es sein, dass wir uns kennen?«, fragte der Notarzt Jensen.
    »Ich war bei der Polizei. Hauwerstraat-Wache. Wird die Frau durchkommen?«
    Der Notarzt nahm Jensen beiseite.
    »Fragen Sie mich das dienstlich oder privat?«
    »Ich habe den Dienst quittiert.«
    »Ich möchte mich nicht festlegen. Aber es besteht eine gewisse Chance, dass sie es übersteht. Machen Sie sich keine Sorgen. Wir tun unser Bestes.«
    Das bedeutet nein, dachte Jensen.
    O’Hara stieg aus dem Ambulanzwagen; einer der Sanitäter wollte ihr dabei behilflich sein. Er berührte sie nur am Ellbogen, aber das war ihr schon zu viel; brüsk entzog sie ihm ihren Arm.
    Der Ambulanzwagen fuhr weg, der Schnee knirschte unter den Rädern.
    »Jensen?«, sagte sie.
    »Ich bin hier.«
    Er ging zu ihr und legte seine Hand auf ihre Wange.
    »Es tut mir leid«, sagte er. »Der Arzt sagt, dass sie … es wahrscheinlich überstehen wird.« Er hoffte, dass sie sein Zögern richtig interpretierte. Es war leichter, von einem Menschen Abschied zu nehmen, der noch lebte, das hatte er ihr damit sagen wollen. Der unerwartete Tod, ohne ein letztes Wort, ohne noch einmal die Hand auf die Stirn des Sterbenden legen zu können und seine Wärme zu spüren, war das härtere Los.
    »Was ist passiert?«, fragte sie, ihre Stimme klang schläfrig, so als spreche sie im Traum. »Du warst allein mit ihr im Wohnzimmer. Was ist passiert? Worüber habt ihr gesprochen?«
    »über ihre Tochter. Ich wollte nur wissen, wo sie wohnt. Das wolltest du doch. Dass ich mich darum kümmere.«
    »Du hast sie gefragt, wo Vera wohnt.«
    Der Wolfsmoment, dachte er. Die meisten Angehörigen eines Unfallopfers oder eines Infarktpatienten reagierten so: Sie suchten nach dem Wolfsmoment, dem Moment, in dem die Ereignisse eine schlechte Wendung genommen hatten. Wenn das Gartentor geschlossen gewesen wäre, wäre das Kind nicht auf die Straße gerannt, in der Sekunde, in der der Lastwagen um die Ecke bog. Wer ließ das Gartentor offen? Wenn nicht das Telefon geklingelt hätte, in dem Augenblick, in dem der Großvater im Badezimmer zusammenbrach, vielleicht hätte man ihn dann noch rechtzeitiggefunden. Wer rief an, wer vergaß über dem Telefonat den Großvater?
    »Ja«, sagte Jensen. »Ich habe sie gefragt, wo Vera wohnt. Wenn das falsch war, hättest du es mir vorher sagen müssen.«
    »Hast du ihr gesagt, dass du ihr nicht glaubst? Hast du sie davon zu überzeugen versucht, dass sie sich das alles nur einbildet?«
    »Herrgott noch mal: Nein!«
    »Aber sie hatte einen Infarkt, Jensen! Und es ist geschehen, als du mit ihr allein warst. Ich kenne dich doch. Du erträgst Menschen wie Trees nicht. Du bist ein Missionar. Du möchtest die Menschen von ihrem Aberglauben heilen. Das hast du doch bestimmt auch bei ihr versucht. Was hast du ihr gesagt, was!«
    In der Ferne jaulte die Sirene des Ambulanzwagens.
    »Entschuldige«, sagte O’Hara. Sie legte, für einen Moment nur, ihren Kopf an seine Schulter. »Ich fahre mit Jorn ins Krankenhaus. Ruf mich heute Abend an.«
    »Möchtest du, dass ich mitkomme?«
    »Nein. Ich muss mich um Jorn kümmern. Wo ist er?«
    »Noch im Haus. Er holt wahrscheinlich seinen Mantel.«
    Und füllt seinen Flachmann, dachte Jensen.
    O’Haras Hand entdeckte seinen Schal.
    »Ist der neu?«, fragte sie. »Der Schal.«
    »Ja.«
    »Kaschmir?«
    »Ich glaube schon.«
    »Das passt nicht zu dir.«
    »Es gab keine anderen.«
    »Nein. Ich meine, dass du überhaupt einen Schal trägst, das passt nicht zu dir.«
    »Bei dieser Kälte ändert man seine Gewohnheiten.«
    »Hast du etwas am Hals?«
    Das Herz, er hatte jetzt das Herz im Hals. Es pochte unter seinem Kinn.
    »Nein«, sagte er. »Warum?« Er brauchte nur noch ein paar Tage Zeit. Wenn die Wunde verheilt war, würden alle Spuren verwischt sein. Von der Eskapade in Island würde nur noch eine schwächer werdende Erinnerung übrig bleiben. »Es ist nur sehr kalt«, sagte er.
    »Bist du sicher? Hast du vielleicht …«
    »Ich bin soweit«, sagte Jorn Lachaert. »Annick. Wir können fahren.« Er verlor den Autoschlüssel aus den Fingern, er bückte sich, klaubte ihn aus dem Schnee und rieb ihn an seinem Mantel trocken. »Ich möchte Ihnen danken«, sagte er zu Jensen. »Ich werde Trees einen Gruß von Ihnen ausrichten. Wenn sie wieder zu sich kommt. Und das wird sie. Sie ist zäh. Sie gibt nicht auf.

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