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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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offenbar laut gedacht. »Was immer es war«, sagte er, »ich nehme es nicht zurück.«
    Er küsste sie. Und dann geschah etwas für seine Verhältnisse Unerhörtes: Sie liebten sich ein zweites Mal. Er konnte sich nicht erinnern, wann ihm das zuletzt gelungen war, es musste Jahrzehnte zurückliegen. Anstrengung und Lust hielten sich die Waage, die aber ständig auf die Seite der Anstrengung zu kippen drohte, sodass er gezwungen war, seine Lust durch erotische Vorstellungen zu stützen, die ihn hinterher, als sie wieder nebeneinanderlagen, in seiner Überzeugung bestärkten, dass die Sexualität aus den Menschen stets das Trivialste herausholte, aber nie auch nur einen einzigen mitteilungswürdigen Gedanken oder eine bedeutende Einsicht, noch nicht einmal eine wirklich originelle Fantasie.
    Und dennoch war es herrlich.
    Jensen betrachtete das stille Licht, das die Straßenlampe auf die Zimmertür zeichnete. Er fühlte sich auf gloriose Weise erschöpft, in seinen Ohren summte sein Blut. Sein Herz schlug noch immer heftig, er spürte den Puls sogarim Fuß. Annick strich mit dem Finger über seine Augenbraue.
    »Welche Farbe haben deine Augen?«
    »Grünbraun«, sagte er.
    Und deine?, dachte er. Sie war nicht von Geburt an blind, davon war er überzeugt, wusste es aber nicht mit Sicherheit, sie hatte nie darüber gesprochen, er hatte nie gefragt. Die Sonnenbrille hatte sie in seiner Gegenwart noch nie abgelegt, selbst vorhin nicht. Er versuchte, nicht über ihre Gründe zu spekulieren, sondern einfach auf den Tag zu warten, an dem sie es ihm offenbarte.
    »Grünbraun«, sagte sie. »Das klingt angeberisch.« Sie lachte. Ihre Hand streifte seinen Hals, Jensen zuckte zusammen.
    »Was ist?«, fragte sie.
    »Nichts. Annick. Bleiben wir jetzt eigentlich beim Vornamen?« Die verfluchte Bisswunde pochte im Takt seines Herzens.
    »Ich denke, unser Kind würde es merkwürdig finden, wenn wir uns mit Nachnamen ansprechen«, sagte sie. »Also, meinetwegen. Ich bin Annick.« Sie schüttelte ihm die Hand, kichernd. »Und? Hannes? Hast du morgen schon etwas vor?«
    Ja, dachte er, ich gehe zum Arzt, gleich als Erstes.
    »Ab Mittag bin ich frei«, sagte er. »Warum?«
    »Ich möchte mit Vera sprechen. Mit Trees’ Tochter.«
    Sie stieg aus dem Bett. »Komm. Wir setzen uns nach unten. Ist noch Champagner in der Flasche? Ich kann jetzt nicht schlafen. Ich möchte noch ein Glas mit dir trinken.«

    Widerwillig saß er neben ihr auf dem Sofa. Er hatte sich nur den Pullover übergezogen, der Rest war Unterwäsche. Ein kalter Luftzug strich um seine Beine.
    Sie stießen an, mit warmem, leblosem Champagner.
    Seine Glückseligkeit von vorhin verging wie Schnee auf der Hand. Trees’ Tochter Vera! Warum nur wollte sie jetzt darüber sprechen! Es war, als würde sie ihm, der so wunderbar geträumt hatte, mit einer Trompete ins Ohr blasen.
    »Du hast doch heute mit Jorn gesprochen«, sagte sie. Sie trug einen roten, seidenen Morgenmantel, bestickt mit chinesischen Motiven. »Als ihr in der Küche wart. Hat er dir da etwas über Vera erzählt?«
    »Nein. Er hat mich nur gefragt, ob du es mir erzählt hast. Ich bin übrigens heute nach Antwerpen gefahren.«
    Warum es jetzt nicht erwähnen, es spielte keine Rolle mehr, die Wärme war ohnehin verflogen. »Ich habe mit dem Wahrsager gesprochen. Mit Pierre Lulambo.«
    »Warum sagst du mir das erst jetzt?«
    »Ich bin nicht dazu gekommen.« Er sagte es ernst, es sollte nicht anzüglich klingen. »Lulambo hat zugegeben, dass er deine Freundin belogen hat. Er hat die ganze Geschichte frei erfunden. Ich hoffe nicht, dass du je daran gezweifelt hast. Wahrsager müssen lügen, das liegt in der Natur der Sache.«
    »Und er hat das einfach so zugegeben? Hast du ihn unter Druck gesetzt?«
    »Keineswegs. Nein. Womit denn?«
    »Das verstehe ich nicht. Warum sollte er Trees auf eine so perfide Art belügen? Ich dachte immer, dass solche Leute selbst glauben, was sie ihren Kunden erzählen. Dadurch werden sie doch erst glaubwürdig. Hat er dir etwas erzählt, über seine Gründe? Ich meine, was bezweckt er damit? Warum sagt er ihr, dass ihre Tochter sterben wird? Das macht doch keinen Sinn, außer wenn er es selber glaubt.«
    »Der Mann ist krank, Annick. Er behauptet, sein Fetisch könne nicht lügen, und wenn er doch lügt, wird allestrotzdem wahr. Und so weiter. Er hört Stimmen. Und er glaubt, was er hört. Sein Gehirn hat sich selbstständig gemacht. Und ihm fehlt die Fähigkeit, das zu erkennen. Du solltest

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