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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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Seit er den Dienst quittiert hatte, rief ihn kaum noch jemand anderes an. Sein Bekanntenkreis war früher schon klein gewesen, jetzt hatte er sich fast vollkommen auf O’Hara verengt. Ich muss wieder einmal Stassen anrufen, dachte er.
    »Hättest du Lust, zu mir zu kommen?«, fragte sie.
    Das Angebot überraschte ihn. Es klang, als bitte sie ihn, die Nacht mit ihr zu verbringen. Wahrscheinlich ging es aber um Trees Lachaert. O’Hara wollte jetzt einfach nicht allein sein. »Natürlich«, sagte er. »Und wie geht es Trees?«
    »Das erzähle ich dir, wenn du hier bist.« Sie sagte es in unbeschwertem Ton. Jensen schloss daraus, dass es Trees Lachaert gut ging, dass sie aber noch bewusstlos oder jedenfalls noch nicht dazu gekommen war, O’Hara mit ihren Verdächtigungen zu vergiften.
    »In einer halben Stunde bin ich bei dir.« Er putzte sich die Zähne, hauchte in die Hand, um festzustellen, ob sein Atem roch; er kämmte sich die Haare, tätschelte sich einige Tropfen Rasierwasser auf die Wangen und zog einen frischen Pullover an. Den Kaschmirschal wickelte er sich besonders sorgfältig um den Hals. Selbstverständlich hätte er in einem zerrissenen Pullover und ungekämmt vor O’Hara treten können, aber damit hätte er sie hintergangen. Es bestand die Gefahr, dass man es für unnötig, ja geradezu für zynisch hielt, sich für eine blinde Frau herauszuputzen. Er rieb sich gegen den Strich über die Augenbrauen, und jene Härchen, die sich dabei als zu lang entpuppten, stutzte er mit der Nagelschere. Zum Schluss zog er seine Skijacke an, mit der er allerdings gegen seinen Vorsatz verstieß, sich O’Hara stets so zu präsentieren, als könne sie ihn sehen. Die Jacke war schmutzig und plump.
    Im Lift nach unten verließ ihn der Mut. Falls sie heute Nacht miteinander schliefen, er hielt es nicht für ausgeschlossen, würde er den Schal ablegen müssen, in O’Haras Gegenwart, vor ihren erloschenen Augen. Und das, dachte er, wird der Moment sein, in dem ich es ihr sagen muss. Island, die Eskapade, die köstliche Dummheit. Wenn er nicht die Selbstachtung verlieren wollte, war das Geständnis unvermeidlich.
    Er trat hinaus in die Kälte, die Luft klirrte, hinter einem Fenster brannten zwei Kerzen: Wer in der Wärme saß, wurde romantisch. Wer aber draußen war, eilte schweigend durch die Gassen, und wer, wie Jensen, etwas zu gestehen hatte, der versuchte sich auf andere Gedanken zu bringen. Jensen dachte an Stassen. Der gute alte Stassen. Inspecteur Stassen, genau genommen weder gut noch alt, aber immerhin der einzige von Jensens ehemaligen Kollegen, der zu seiner Beerdigung kommen würde.
    Morgen rufe ich ihn an, dachte Jensen, als er über den menschenleeren Marktplatz ging, das Herz Brügges, es war stehengeblieben. Erst im Mai würde es wieder zu schlagen beginnen und Touristen in die Gassen pumpen. Jensen blieb stehen und schaute sich um. Er konnte sich nicht erinnern, das jemals zuvor erlebt zu haben, auch nicht nachts im tiefsten Winter: Er war der einzige Mensch hier. DerBelfried beim Rathaus wurde von zwei Scheinwerfern beleuchtet, allein für Jensen.
    Jensen ging weiter, vorbei an alten Kaufmannshäusern mit ihren prahlerischen getreppten Scheinfassaden. In mit Rosenblättern bestreuten Speisezimmern hatten die früheren Besitzer dieser Häuser die kostbare Muskatnuss gegessen, zum Zeichen ihres Reichtums. Die im Muskat enthaltenen halluzinogenen Substanzen hatten den frommen Kaufleuten zu einer Audienz bei der Heiligen Mutter Gottes verholfen. Stassen hatte sich darüber einmal lustig gemacht: »Dass die katholischen Flamen lieber mit den katholischen Wallonen einen Staat gründeten als mit den protestantischen Holländern, liegt an den Muskatnüssen.«
    Ich lade ihn einfach zu einem Bier ein, dachte Jensen.
    Einfach war es allerdings nie gewesen, den Familienmensch Stassen zu einem Feierabendbier zu überreden. Und wenn es dann doch gelungen war, hatte Stassen fast ausschließlich über ein Leck in der Regenrinne seines Hauses gesprochen oder über den Garten, in dem die Glyzinie nicht wachsen wollte, über die Fortschritte seiner Tochter beim Klavierspiel, schließlich über die Katze, die Stassen täglich um zehn Uhr abends mit Crevetten ins Haus locken musste, damit sie nachts nicht draußen blieb und verwilderte. Um halb zehn hatte Stassen jeweils auf die Uhr geschaut und gesagt: »Oje, schon so spät. Du weißt ja, Baudouin«, so hieß die Katze. »Nur bei mir wirkt das mit den Crevetten. Else«, so

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