Der Assistent der Sterne
ernsthafter Biss. Wenn ich nicht wüsste, dass Sie Polizist sind oder es waren, wäre mir nicht wohl bei der Sache. War es ein Streit? Zwischen Ihnen und … Ihrer Frau? Darf ich Sie das fragen?«
»Es war kein Streit. Und ich bin nicht verheiratet. Aber ich verstehe, worauf Sie hinauswollen.«
Vanackere setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch.
»Es kommt öfter vor, als man denkt«, sagte er. »Wenneine Frau … angegriffen wird … manchmal wissen sie sich dann nicht anders zu helfen. Erst kürzlich … haben Sie es gelesen? Ein junges Mädchen hat einem Mann, der es vergewaltigen wollte, das halbe Ohr abgebissen. Er wäre beinahe verblutet. Aber jetzt sollten wir uns auf das Wesentliche konzentrieren. Auf die Behandlung.«
»Gern«, sagte Jensen.
Vanackere warf ihm einen merkwürdigen Blick zu. Der Kugelschreiber glitt ihm aus den Fingern, er hob ihn wieder auf, umklammerte ihn mit der ganzen Hand.
»Ich verschreibe Ihnen eine Salbe, sie wirkt im Allgemeinen gut, entzündungshemmend. Reiben Sie die Stelle dreimal täglich damit ein, ohne Druck, nur leicht auftragen.«
Mit sichtlicher Mühe schrieb er etwas auf den Rezeptblock. Er riss den Zettel ab und schob ihn Jensen hin.
»Kommen Sie in drei Tagen zur Nachuntersuchung. Das wäre vorläufig alles.«
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16
D ieser Idiot!, dachte Jensen.
Er wartete in der Apotheke auf die Salbe, sein Hintermann hustete ihm in den Nacken. Jensen suchte Abstand. Der Huster entschuldigte sich, er trug ebenfalls einen Schal, seine Augen glitzerten fiebrig. Der Mann roch nach Menthol und Essig; er hatte wohl versucht, das Fieber mit Essigsocken zu senken.
Vanackere! Jensen nahm es sich übel, dass er auf denVorwurf der Vergewaltigung nicht entschiedener reagiert hatte. Andererseits konnte man Vanackere keinen Vorwurf machen, er hatte recht: Ein Mann mit einer so schweren Bisswunde war verdächtig. Es war ja kein Liebesfleck, es war eine veritable Verletzung. Jensen hatte während seiner Dienstzeit zwei- oder dreimal mit Männern zu tun gehabt, die von ihren Frauen gebissen worden waren. In allen Fällen hatte es sich um Notwehr gehandelt. Vanackere war kein Idiot, sein Misstrauen war vollkommen berechtigt gewesen.
Die Verkäuferin brachte die Salbe, eine winzige Tube. Jensen fasste zu der Salbe sofort Vertrauen, eben weil die Tube so klein war; es schien sich um einen hochkonzentrierten Wirkstoff zu handeln oder aber um die perfekte Umsetzung der Erkenntnis, dass die Menschen kleine Pillen für heilkräftiger hielten als große. Jensen steckte das Tübchen ein und machte sich auf den Weg zum Kortewinkel. Es war Wind aufgekommen, er blies Schneestaub von den Dächern. Die Hände tief in den Taschen seiner Skijacke vergraben, eilte Jensen durch Wind und Kälte; es war schon nach zehn, er würde fünf Minuten zu spät bei O’Hara eintreffen.
Bei Annick, korrigierte er sich. Sie heißt Annick. Er musste sich das O’Hara abgewöhnen, aber vor allem musste er diesen Tag überstehen.
Er rannte ein paar Schritte. Annick legte Wert auf Pünktlichkeit, vielleicht weil das Ablesen der Uhrzeit für sie ein mühevolles Geschäft war. Sie musste dazu die Zeiger der Wanduhr, die in ihrem Wohnzimmer auf Brusthöhe hing, mit den Fingern abtasten. Dieser Aufwand verlieh jeder Minute, die jemand zu spät kam, ein negatives Gewicht.
Es begann weiße Hühner zu schneien, große, stille Flocken; das letzte Stück bis zum Torbogen vor O’Haras Hausrannte Jensen, mit zusammengekniffenen Augen, die Flocken verfingen sich in seinen Wimpern.
Heute würde er Vera Lachaert begegnen, das war unvermeidlich. O’Hara hatte ihm gestern Nacht ihren Plan erklärt. Offenbar aß Vera Lachaert immer freitags in einem Bistro in Antwerpen, am Groenplaats, zu Mittag. Jorn Lachaert hatte das vor ein paar Monaten zufällig erfahren: Der Sohn eines ehemaligen Kollegen von Jorn – sie hatten auf demselben Lotsenschiff gearbeitet – war im besagten Bistro Chef de Service. Jorns Kollege, der Vera Lachaert von früher her kannte, hielt sich also oft in diesem Bistro auf, seinem Sohn zuliebe. Auf diese Weise war Jorn an die Information gelangt, die nun das Kernstück von Annicks Plan bildete. Sie wollte Vera Lachaert in dem Bistro überraschend ansprechen. Dazu brauchte sie Jensens Hilfe. Er sollte das Lokal ausspähen und, sobald er Vera Lachaert entdeckt hatte, Annick zu ihr führen.
Gestern Nacht hatte Jensen diesen Plan zunächst abgelehnt. Lulambos Warnung, seine Behauptung, er, Jensen, werde
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