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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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»möchte ich nicht allein schlafen.«
    Ich schon, dachte er. Gerade heute.
    »Komm.« Sie stand auf und ging zur Treppe.
    Er folgte ihr. Sie stieg vor ihm die Stufen hoch, und er wünschte sich, es wären tausend gewesen, die Stufen einer unendlichen Escher-Treppe, und erst in drei Tagen hätten sie das Schlafzimmer erreicht. Drei Tage, erst dann würde die Bisswunde verheilt sein.
    Aber was ändert das?, dachte er. Trees Lachaert würde sich an die Wunde auch dann noch erinnern, wenn es sie nicht mehr gab.
    Es waren nur zehn oder zwölf Stufen.
    Sie stieß die Tür zu ihrem Schlafzimmer auf.
    »Willst du Licht?«, fragte sie.
    »Nein.«
    Sie lachte.
    »Das ist kein Kompliment«, sagte sie.
    »Annick.«
    »Ja?«
    Sie zog sich aus, er hörte ihren Rock fallen, ein leises Rascheln. Hinter dem Fenster des Hauses auf der anderen Gassenseite brannte Licht. Jensen glaubte hinter den Vorhängen eine Bewegung zu sehen.
    »Was?«, fragte sie.
    »Ich ziehe die Vorhänge zu«, sagte er. Er stieß im Dunkeln mit ihr zusammen, sie hielt ihn fest.
    »Da drüben beobachtet uns jemand«, sagte er.
    Sie küsste ihn und zog ihn aufs Bett, schob ihre Hände unter seinen Pullover, er zog unwillkürlich den Bauch ein, um ihn straffer zu machen. Sie streifte ihm den Pullover über den Kopf, den Schal wickelte er sich hastig vom Hals. Ihre Hände waren fordernd; Jensen hatte das Gefühl, einer Prüfung unterzogen zu werden. Sie strich, beiläufig nur, aber eben doch prüfend, über seine taube Stelle. Sie war taub vor Aufregung und Scham.
    »Schlaf mit mir«, flüsterte sie. »Ich habe es schon lange nicht mehr so gewollt.«
    »Ich kann nicht«, sagte er.
    »Warum nicht?« Sie lachte leise. »Bist du aufgeregt? Das bin ich auch. Das macht nichts. Wir haben Zeit. Und wir wissen doch jetzt beide, dass wir es schaffen werden. Du und ich und … möchtest du es wissen?«
    »Was?«
    »Ob es ein Mädchen oder ein Junge ist.«
    »Ja.«
    »Ein Mädchen«, sagte sie. Sie öffnete seine Gürtelschnalle. »Und ich hätte es auch gewollt, wenn es nicht gesund gewesen wäre.«
    Marleen, dachte er. Marleen wäre ein schöner Name.
    »Ein Mädchen«, sagte er. »Das ist …«
    Annick legte ihm die Hand auf den Mund.
    Sie gab ihm einige Anweisungen, die er befolgen konnte, ohne in derselben Stimmung sein zu müssen wie sie. Nach einer Weile erfasste ihn plötzlich eine Glückseligkeit, die mit dem, was er gerade tat, nicht das Geringste zu tun hatte. Etwas Wunderbares war geschehen, und er begriff es erst jetzt. Nachdem er Margarete und das ungeborene Kind verloren hatte, war er überzeugt gewesen, dass seine Zukunft damit unwiderruflich um eine Möglichkeit ärmer geworden war. Er würde kinderlos sterben, also ohne in dieser Welt die einzige Aufgabe erledigt zu haben, die dem Menschen hier zugedacht war. Die Natur war ihrem Wesen nach anspruchslos, sie verlangte von niemandem mehr, als sich fortzupflanzen. Natürlich stand es jedem frei, nebenbei noch Pyramiden zu errichten oder eine Oper zu komponieren. Aber aus Sicht der Natur hatte das alles den Beigeschmack einer Liebhaberei, schön, aber nicht wirklich notwendig. Jensens Empfindung war stets die gewesen, dass seinem Leben ohne die Erfüllung der simplen und dennoch fundamentalen Aufgabe der Fortpflanzung etwas Beliebiges anhaftete und dass erst ein Kind auch seinen anderen Taten Gewicht verliehen hätte. Und nun bot sich ihm, als Ergebnis einer Reihe von Zufällen, plötzlich diese zweite Chance, die versiegelt geglaubte Pforte öffnete sich ihm erneut. Hier war eine Frau, Annick, und hier war ein Kind, eine Tochter, Marleen. Und nichts in der Welt konnte so kostbar sein wie diese zweite Chance, denn eine dritte würde es nicht geben, nicht für einen Mann seines Alters.
    »Komm jetzt«, sagte Annick, atemlos. »Komm.«
    Und Jensen, geradezu trotzig, tat es; es gab nur noch Annick und ihn und Marleen. Die Bisswunde, das Geständnis, Trees Lachaert: Das alles war, verglichen mit diesem Glücksfall, unendlich nebensächlich. Auch sein schlechtes Gewissen: nebensächlich. Ich liebe dich, dachte er.
    Annick stemmte sich gegen ihn, ihr Rhythmus war ein anderer als seiner, sie gerieten aus dem Takt, sie waren füreinander noch Anfänger. Aber das würde sich geben, wie alles andere auch.

    »Ich dich auch«, sagte sie.
    Sie lagen nebeneinander, unter der feuchten Bettdecke, die nun allmählich auskühlte, er fror.
    »Du mich auch? Was?«, fragte er.
    »Sei nicht kindisch.«
    Ich liebe dich, er hatte

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