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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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sich ungehindert durch das Vakuum des Weltraums bewegte, stand die Zeit still. Mehr noch: Sie existierte nicht. Aus der Sicht des Lichts existierte nur der Raum. Und alles darin war unveränderlich. Denn Veränderung konnte nur in der Zeit stattfinden. Veränderung bedeutete, dass es ein Vorher und ein Nachher gab, und dazwischen verstrich Zeit. Für das Licht verstrich aber keine Zeit.
    Die Zeit, dachte Jensen, beginnt also in dem Moment zu existieren, in dem sich etwas langsamer bewegt als mit Lichtgeschwindigkeit.
    Menschen bewegten sich unvorstellbar viel langsamer als das Licht. Lebende nur ein Quäntchen schneller als die Toten. Menschen bewegten sich fast überhaupt nicht durch den Raum; sie bewohnten, im Vergleich zum Licht, das entgegengesetzte Ende der Skala: Sie bewegten sich nahezu ausschließlich durch die Zeit. Der Raum war für den Menschen praktisch bedeutungslos. Der Mensch existierte in der Zeit, das ließ sich leicht beweisen.
    Man braucht sich nur den Beter anzusehen, dachte Jensen. In nur achtzig Jahren hatte dieser Mann sich von einem Säugling in einen Schwerhörigen verwandelt. Achtzig Jahre! Gemessen an kosmischen Zeiträumen war das ein Lidschlag. Von seinem ersten Atemzug an war dieser Mann durch die Zeit gerast; kaum hatte er an der Mutterbrust getrunken, saß er in der Schulbank, und während das Licht draußen im All unendliche Räume durchquerte, schoss er wie ein Pfeil durch die Zeit, heiratete, zeugte Kinder, die nun ihrerseits ihm in der Zeit nachflitzten und sein Geschäft übernahmen, ihn nach seinem Testament fragten, obwohl er doch erst vor Kurzem geboren worden war. Und in fünf Jahren, dachte Jensen, wird er zerfallen, so schnell, wie er gewachsen ist. In zweihundert Jahren wird die Inschrift auf seinem Grabstein verwittert sein. Und all das, dachte Jensen, ist ausschließlich in der Zeit geschehen. Den Raum hat dieser Mann nie betreten. Die weiteste Entfernung, die je ein Mensch durch den Raum zurückgelegt hatte, war die der Astronauten zum Mond. Angesichts der unbegreiflichen Größe des Universums entsprach die Reise zum Mond noch nicht einmal einem Schritt vor die Haustür.
    Gut, dachte Jensen. Er hatte den Faden verloren. Er besann sich auf die eigentliche Frage: War die Zukunft vorhersehbar?
    Die beiden Studentinnen setzten sich in die Bank hinter ihm. Sie flüsterten miteinander. Der Messner behielt sie im Auge, während er mit einem Staubwedel die silbernen Kerzenständer kitzelte. Auch das Kruzifix säuberte er; wenn der Gottessohn lange genug die Arme ausbreitete, ließ der Staub sich auch auf ihnen nieder.
    Wenigstens der Staub, dachte Jensen, folgt den Gesetzen der Schwerkraft.
    Also, dachte er. Die Zukunft. Falls sie, wie Lulambo glaubte, bereits feststand, was unterschied sie dann von derVergangenheit? War man gestern mit dem Fahrrad gestürzt, konnte man morgen nicht nicht gestürzt sein. Die Vergangenheit war unabänderlich, und wenn Lulambo recht hatte, hätte dasselbe auch für die Zukunft gelten müssen. Angenommen, dachte Jensen, jemand wird in zehn Tagen mit dem Fahrrad stürzen. Dann stünde dieses Ereignis heute schon fest und wäre damit ebenso unabänderlich wie das entsprechende Ereignis in der Vergangenheit. Das hätte bedeutet, dass jenem Fahrradfahrer keine Wahl blieb: Was immer er tat, welche Entscheidungen er auch traf, es wog alles nichts gegen das vorbestimmte Ereignis, auf das er unweigerlich sich in der Zeit zubewegte. Er musste in zehn Tagen mit dem Fahrrad stürzen. Warum stürzte er aber nicht schon heute? Warum dauerte es zehn Tage, bis ein Radfahrer, dem es vorbestimmt war, zu stürzen, dann auch tatsächlich stürzte?
    Jensen hatte das Gefühl, der Antwort nahe zu sein. Er schloss die Augen, er musste sich konzentrieren, was nicht einfach war.
    Die Studentinnen hinter ihm tuschelten.
    »Nicht löschen«, flüsterte die eine.
    »Ist doch sowieso alles Schrott. Alles unterbelichtet.«
    »… und bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres …«
    In dieser Kirche herrschte ein unerträglicher Lärm!
    Das Licht.
    Daran musste er anknüpfen. Das Licht war der Schlüssel. Es fiel ihm leichter, sich Licht vorzustellen, wenn er an ein kleines leuchtendes Pünktchen dachte, an ein einzelnes Lichtteilchen, ein Photon. Wenn dieses Photon sich ungehindert bewegen konnte, erreichte es die maximale Geschwindigkeit durch den Raum. Die Zeit existierte für dieses Photon dann nicht. Wenn es aber keine Zeit gab, wiefanden dann Veränderungen

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