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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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grundsätzlich unmöglich, eine zutreffende Aussage über die Zukunft zu machen. Das war Jensens Hypothese. Nun war es notwendig, sie auf ein stabiles physikalisches Fundament zu stellen. Dazu musste er seine Behauptung infrage stellen. Er war absolut überzeugt davon, dass seine Hypothese zutraf. Aber gesucht wurden nicht überzeugungen, sondern die Wahrheit. Es war also notwendig, der eigenen überzeugung zu misstrauen. Jensen ging davon aus, dass seine Hypothese falsch war. Es stand jetzt keineswegs mehr fest, dass es unmöglich war, die Zukunft vorherzusehen. Die Fragestellung lautete: War es möglich oder nicht? War es möglich zu wissen, was genau morgen oder auch nur in einer Stunde geschehen würde?
    Zwei Blitze überstrahlten das Ewige Licht. Die beiden Kunststudentinnen hatten sich inzwischen in den Altarraum vorgewagt; sie fielen mit ihren Fotoapparaten über die dreihundert Jahre alten Wandteppiche her.
    Licht, dachte Jensen. Das war die Basis. Licht.
    Um herauszufinden, ob es möglich war, die Zukunft zu kennen, musste man sich zunächst fragen: Was ist Licht?
    Spezielle Relativitätstheorie, dachte er. Einstein hatte sie vor mehr als hundert Jahren formuliert, und Jensen hatte noch mal fünfzig Jahre gebraucht, um zu verstehen, worum es dabei ging.
    Es ging um Bewegung.
    Alle Objekte im Universum bewegten sich. Es gab grundsätzlich nichts, das absolut stillstand. Egal, ob man etwas so Winziges wie ein Atom betrachtete oder etwas unvorstellbar Großes wie einen Galaxienhaufen, man stellte stets fest, dass beides sich in einer permanenten Bewegung befand. Das galt selbstverständlich auch für jeden einzelnen Menschen.
    Jensen blickte zum Beter hinüber.
    Er und ich, dachte er, bewegen uns scheinbar nicht vom Fleck. Er kniet und betet, und ich sitze still und denke nach. Aber während wir ruhen, rasen wir mit einer Geschwindigkeit von dreißig Kilometern pro Sekunde um die Sonne.
    Sogar die Toten bewegten sich. Zwei Kilometer von der Salvatorkirche entfernt lag Margarete in ihrem Grab, auf dem Friedhof der Sint-Michiels-Kirche. Sie und die anderen, die dort bestattet waren, bewegten sich in diesem Moment ebenso schnell durchs All wie Jensen, die zwei Touristinnen und der Beter, nämlich gleichfalls mit dreißigKilometern pro Sekunde. Denn vor dem Gesetz, dass alles, das im Universum existiert, sich bewegen muss, waren Lebende und Tote gleich.
    Wir haben keine Wahl, dachte Jensen. Wir müssen uns bewegen, und zwar entweder durch den Raum oder durch die Zeit.
    Das war der springende Punkt.
    Das Universum aber führte gewissermaßen Buch über die Bewegungen. Und es war ein äußerst strenger Buchhalter. Wenn sich etwas sehr schnell durch den Raum bewegte, musste es sich desto langsamer durch die Zeit bewegen. Umgekehrt galt dasselbe.
    Wenn ich nachher aufstehe, dachte Jensen, und ins Hotel gehe, bewege ich mich ein wenig schneller durch den Raum als die Toten auf dem Sint-Michiels-Friedhof. Dafür aber bewegten sich die Toten relativ zu ihm schneller durch die Zeit.
    Der Gedanke, dass er aufgrund der Relation zwischen Zeit, Raum und Bewegung mit Margarete über ihren Tod hinaus noch immer in einer Wechselwirkung stand, rührte Jensen. Man konnte in der Relativitätstheorie, einem rein mathematischen Werk, Trost finden, das war doch erstaunlich.
    »… gebenedeit unter den Weibern …« Der Betende stützte die Stirn auf seine gefalteten Hände. Die Tür der Sakristei knarrte, ein Messner eilte durch die Apsis auf die beiden Studentinnen zu. Das Fotografieren der Wandteppiche mit Blitzlicht war selbstverständlich verboten.
    Die Gesamtsumme der Bewegung durch Raum und Zeit, dachte Jensen, beträgt stets hundert Prozent.
    Wenn ein Objekt beispielsweise zehn Prozent für die Bewegung durch den Raum verbrauchte, blieben ihm neunzig Prozent für die Bewegung durch die Zeit. Ein solches Objektbewegte sich folglich neun Mal schneller durch die Zeit als durch den Raum. Wenn sich nun etwas zu hundert Prozent durch den Raum bewegte, blieben ihm für die Bewegung durch die Zeit null Prozent übrig.
    Das Licht.
    Das Licht, und Jensen genoss diesen Gedanken sehr, war der Feind aller Wahrsager, Handleser, Horoskopdichter, und im Speziellen der Feind von Pierre Lulambo.
    Nichts konnte sich schneller durch den Raum bewegen als das Licht. Die Lichtgeschwindigkeit entsprach der maximalen Bewegung durch den Raum. Folglich reiste das Licht zu hundert Prozent durch den Raum und zu null Prozent durch die Zeit. Für Licht, das

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