Der Assistent der Sterne
für Annick, Marleen und ihn. Die hohen Kosten für das Hotelzimmer würden seine Suche sogar beschleunigen. Den Heizungsmonteur konnte man vergessen.
Die Wollestraat führte vom Marktplatz aus zum Hotel. Aber Jensen entschied sich für die Steenstraat.
Für die Salvatorkirche.
In letzter Zeit waren Dinge geschehen, zu deren genauem Verständnis eine Theorie erforderlich war. Es ging darum, das zuvor Unverständliche zu erschließen wie einen weißen Fleck auf einer Landkarte. Die Theorie glich dabei der Machete, mit der man sich einen Pfad durch das Unbekannte freischlug. Eine gute Theorie hatte zusätzlich noch die Funktion eines Kompasses. Jedenfalls wollte Jensen die Theorie noch heute entwickeln, an einem stillen Ort.
Das schwere Portal der Salvatorkirche fiel hinter ihm ins Schloss. Die Mauern dünsteten den Weihrauchgeruch von Jahrhunderten aus. Jensen bekreuzigte sich und ging durch den Mittelgang an den Bänken vorbei nach vorn. Sieben große, silberne Kerzenständer trennten den Altarraum vom Langhaus. Zwei Frauen, beide in modischen Winterkleidern, standen unschlüssig vor den Kerzenständern; sie waren sich nicht sicher, ob es erlaubt war, die Apsis zu betreten, wo die berühmten Wandteppiche hingen. Sie unterhielten sich leise auf Flämisch, wahrscheinlich waren es Kunststudentinnen aus Brüssel, den Kleidern nach versorgt mit väterlichen Apanagen.
In der vordersten Bank kniete ein älterer Mann; er betete laut das Vaterunser. Das Ewige Licht brannte ruhig hinter seinem Windfangglas.
Jensen setzte sich in die zweitvorderste Bankreihe undbetrachtete das Kruzifix, das dem mittleren der sieben Kerzenständer aufgesetzt war.
»… der du bist im Himmel …«, murmelte der Beter. Dann verstummte er, denn eine der Studentinnen fotografierte mit Blitzlicht den Altarraum. Das Kruzifix, es war eine Silberarbeit, leuchtete mehrmals hell auf. Ein erwachsener Mann hing an nur drei Nägeln am Kreuz. Zwei der Nägel waren durch seine Hände getrieben worden. An ihnen zerrte nun das gesamte Körpergewicht des Mannes. Es war offensichtlich, dass diese Darstellung die Gravitationskräfte außer Acht ließ. Ein auf die gezeigte Weise an einem Kreuz befestigter Mensch wäre nach wenigen Minuten mit zerrissenen Händen zu Boden gestürzt. Was Jensen an Kruzifixen störte, war deren Inkonsequenz. Einerseits wurde eine realistische Darstellung angestrebt: Es floss Blut, es klafften Wunden, die Wirkung jedes einzelnen Peitschenhiebs wurde minutiös dokumentiert. Ohne jegliche religiöse Überhöhung wurde ein gemarterter Körper präzise dargestellt. Aber beim entscheidenden Punkt, der Befestigung des Gekreuzigten, artete die Darstellung in pure Schlamperei aus. Hier stimmte dann gar nichts mehr, und das seit Jahrtausenden.
Die Details stimmten, nicht aber das Ganze.
Lulambo hatte auf ihn gewartet, vor dem Hotel. Er hatte ihn gewarnt: Halten Sie sich von Vera Lachaert fern.
Und zwei Tage später, dachte Jensen, habe ich Ilunga Likasi kennengelernt.
Lulambo hatte offenbar nicht gewusst, dass sie den Namen ihrer leiblichen Mutter angenommen hatte.
Das bedeutet, dachte Jensen, dass ich gar nicht die Möglichkeit gehabt hätte, mich von Vera Lachaert fernzuhalten, selbst wenn das meine Absicht gewesen wäre. Im Nachhinein wirkte es unvermeidlich, dass sie einander begegnetwaren. Es schien, als habe das Schicksal gewaltet. Und Lulambo schien alles gewusst zu haben, bevor es tatsächlich geschah.
Nichts war jetzt nötiger als eine Theorie.
»Vater unser …«, begann der Beter wieder. Jensen blickte zu ihm hinüber. Für einen Achtzigjährigen, und viel jünger war der Mann nicht, musste es eine ernste Buße sein, so lange auf dem harten Brett zu knien. Der Mann betete in seine gefalteten Hände. Seine weißen Haare standen einzeln vom Kopf ab. Hinter seinem Ohr nahm ein Hörgerät viel Raum ein, es war ein veraltetes Modell, wuchtig und unempfindlich. Wahrscheinlich betete er deshalb laut: Er hörte den Unterschied zwischen Gedanken und Worten nicht mehr.
Ego te absolvo, dachte Jensen. Der Mann tat ihm leid; selbst noch in hohem Alter zwang ihn seine Höllenfurcht auf das harte Kniebrett, er würde die Befreiung von dieser Knechtschaft nie erleben. In nomine patrii et filii et spiritu sancti. Ich vergebe dir. Vermutlich hatte der Mann zuvor gebeichtet, und nun arbeitete er die Bußgebete ab, zwanzig Vaterunser, zehn Ave Maria; da verlor einer Zeit, der keine mehr hatte.
Eine Theorie, dachte Jensen.
Es war
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