Der Assistent der Sterne
heimatlose Wände, die über seinem Bett schwebten, merkwürdige Verzerrungen, von denen er sich bedroht fühlte, obwohl sie vollkommen apersonal waren. Ihr Reich war der Halbschlaf, wenn man kurz die Augen öffnete, ohne eigentlich wach zu sein. Um sie zu vertreiben, musste man gründlich erwachen. Jensen knipste das Licht an, die Digitaluhr des Fernsehers zeigte eine unübliche Zeit, zwei Uhr null sechs. Er konnte sich nicht erinnern, jemals um zwei Uhr nachts erwacht zu sein. Um fünf Uhr, um sechs, das geschah oft, aber zwei Uhr war eine Novität.
Senile Bettflucht. Vielleicht begann es so. Zerfallsprozesse begannen ja stets harmlos: eine kleine Steifheit des Rückens, ein paar Haare im Waschbecken, ein Fingerglied, das ohne erkennbaren Grund sich nur noch unter Schmerzen beugen ließ, aber nach ein paar Minuten war es ja wieder vorbei. Es gab ein kleines und ein großes Alter, das stand fest. Das kleine Alter begann mit vierzig, wenn die ersten Störungen auftraten, keine Krankheiten, nur Materialermüdung. Vor allem die Gelenke, deren Existenz vierzig Jahrelang im Grunde rein hypothetisch gewesen war, begannen sich jetzt einzeln vorzustellen. Man wurde sich bewusst, dass man ein Becken besaß, zwei Knie, einen Rücken, bestehend aus Bandscheiben und einer Unzahl Knorpeln und Wirbeln, die ihre Last nur noch murrend trugen. Das kleine Alter war die Skizze, in der in groben Strichen der Zerfall zum ersten Mal umrissen wurde. Die Details blieben noch ausgespart, und manches konnte man durch Korrekturen der Lebensweise vorläufig noch vom Blatt radieren. Im kleinen Alter sah man in der Ferne den Tod, und man hatte den Eindruck, dass er sich auf einen zubewegte. An manchen Tagen war man aber überzeugt davon, dass man sich täuschte: Er näherte sich keineswegs, im Gegenteil, er entfernte sich sogar, um die wirklich Alten einzusammeln, die Achtzigjährigen, von denen einen noch Welten trennten.
Diese Zeit des kleinen Alters, dachte Jensen, in der Selbsttäuschung noch möglich ist, muss man unbedingt genießen. Denn sobald man ins große Alter eintrat, setzte sich einem der Tod auf die Knie und bot einem das Du an. Die Zeit, die zuvor in verschwenderischem Ausmaß zur Verfügung gestanden hatte, wurde rationiert, jeden Tag verbrauchte man eine Portion davon, und der Vorrat schwand, es herrschte jetzt offener Krieg. Davon bist du noch weit entfernt, dachte Jensen. Die Zipperlein, die plötzliche Empfindlichkeit gegen Luftzug, das waren doch erst die üblichen Scharmützel des kleinen Alters, lästig, aber noch ungefährlich. Lästig, weil er inzwischen viel Stoff auf der Haut brauchte, selbst im Sommer. Den Sommer empfand er mittlerweile sogar als gefährlichste Jahreszeit, denn wie schnell verkühlte man sich an einem vermeintlich lauen Abend die Muskeln zwischen den Schultern und litt dann unter einer Art Weichteilrheuma. Oder aber der Abendwind kroch unter das T-Shirt, das die Nierengegend nichtgenügend abdeckte, und beim Aufstehen explodierte der Ischiasnerv.
Die Digitaluhr sprang auf zwei Uhr vierzehn.
Themawechsel, dachte Jensen.
Im Badezimmer schluckte er zwei Pillen, Lexotanil, ein feinsinniges Beruhigungsmittel, geradezu künstlerisch, die Zierde der Chemie, denn es wirkte sanft und entschlossen zugleich. Er legte sich wieder ins Bett, schaltete das Licht aus und wartete auf die Wirkung. Sie trat, wie er wusste, immer ein, egal, ob man darauf wartete oder nicht. Die Chemie verlangte keine Mitarbeit, sie überwältigte den Körper, das war das Grandiose an ihr. Am Ende reduzierte sich der Fortschritt der letzten zweitausend Jahre auf die Entdeckung beruhigender und schmerzstillender Substanzen. Wenn man bedachte, dass selbst der Kaiser von Rom wochenlang unter Zahnschmerzen gelitten hatte, verzieh man dem 21. Jahrhundert alle Fehler.
So ist es, dachte Jensen. Dann schlief er ein.
Erst gegen Mittag erwachte er, und auch nur, weil sein Handy auf dem Nachttisch klingelte. Er war mit Annick verabredet, gut, dass sie ihn anrief, er hätte sonst verschlafen.
»Ja«, sagte er, mit geschlossenen Augen; am liebsten hätte er sich auf die Seite gedreht und weitergeschlafen. »Annick. Ich komme gleich.«
»Nichts Annick. Ich bin’s. Frans. Frans Stassen.«
Jensen schlug die Augen auf.
»Frans?«
»Was ist? Schläfst du noch?«
»Nein.« Jensen stieg aus dem Bett. »Es ist nur … ich wusste nicht … ich dachte, es sei jemand anders. Wie geht es dir?«
Jensen zog die Vorhänge auf. Die Sonne blendete ihn,
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