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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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statt? Jensen sah das Photon als glimmendes Kügelchen durchs Weltall rasen. Noch lebte es in einem zeitlosen Zustand, ohne ein Vorher und ein Nachher. Alles war auf ewig so, wie es war. Aber ewig konnte es so nicht weitergehen, denn das Photon war im Kosmos nicht allein. Man brauchte sich nur den Himmel anzuschauen. Er war blau, weil die Photonen, die von der Sonne her kommend in die Erdatmosphäre eindrangen, dort mit Molekülen zusammenstießen. Und wenn nun das kleine Photon in der Erdhülle mit einem Sauerstoffmolekül kollidierte, erlebte es zweifellos eine gravierende Veränderung. Zuvor hatte es sich zu hundert Prozent durch den Raum bewegt und zu null Prozent durch die Zeit. Nun aber prallte es mit dem Sauerstoffmolekül zusammen und wurde immens abgebremst. Es bewegte sich jetzt nicht mehr zu hundert, sondern nur noch zu neunundneunzig Prozent durch den Raum. Ein Prozent blieb übrig für die Bewegung durch die Zeit.
    Und in diesem Moment begann die Uhr des Photons zu ticken. Es trat in die Zeit ein, es hatte jetzt eine Vergangenheit und eine Zukunft. Wenn das Photon ein Gedächtnis gehabt hätte, hätte es sich an den Zusammenprall erinnert und ihn als vergangenes Ereignis empfunden.
    Die Vergangenheit, dachte Jensen, besteht für das Photon aus einem einzigen Ereignis, dem Zusammenprall. Aber die Zukunft des Photons bestand aus mehr als nur einem Ereignis. Es konnte entweder erneut kollidieren, mit einem anderen Molekül, oder aber es kollidierte nicht mehr. Beides war möglich. Aber nicht beides konnte gleichzeitig wirklich werden.
    Und das ist es, dachte er, was die Zukunft von der Vergangenheit unterscheidet. Die Vergangenheit bestand stets aus einem einzigen Ereignis, das so und nicht anders eingetreten war, das aber zuvor, in der Zukunft, nur eines von mindestens zwei möglichen Ereignissen gewesen war. Was man Vergangenheit nannte, war nichts anderes als das Resultat einer Selektion.
    Wer morgens sein Haus verließ, dem öffnete die Zukunft tausend Türen. Die meisten Menschen entschieden sich dafür, immer dieselbe zu betreten, aber selbst dann fanden sie nie exakt denselben Raum vor, den sie gestern betreten hatten. Dass selbst bei langweiligster Lebensführung kein Tag wie der andere verlief, lag daran, dass die Zukunft das Reservoir der Möglichkeiten war, aus dem die Vergangenheit schöpfte. Am Abend eines Tages erinnerte man sich an die Möglichkeiten, die Wirklichkeit geworden waren. Sobald ein Ereignis wirklich wurde, war es unabänderlich, und weil das so war, kannte man die Vergangenheit sehr exakt.
    Aus all dem ergab sich, dass man die Zukunft deshalb nicht kennen konnte, weil sie ihrem Wesen nach aus mindestens zwei Möglichkeiten bestand, und da nur eine davon in den Zustand der Vergangenheit übergehen konnte, hörte die Gewissheit auf, und die Wahrscheinlichkeit kam ins Spiel.
    Die Zukunft, dachte Jensen, ist ein evolutionärer Kampfplatz der Wahrscheinlichkeiten.Von allen möglichen Ereignissen setzte sich das wahrscheinlichste durch. Welches sich durchsetzen würde, konnte man aber erst in dem Moment wissen, in dem es geschah und zur Vergangenheit wurde. Vorher konnte man allenfalls über Wahrscheinlichkeiten spekulieren.
    Wahrsagerei war also stets Spekulation, der Beweis war hiermit erbracht.
    »Amen«, murmelte der Betende. Mühsam erhob er sich von der Bank, er drückte sich die Hand ins Kreuz, das langeKnien hatte seine Gelenke hart und trocken gemacht; Jensen kannte den entsprechenden Schmerz. Er stand gleichfalls auf; im Mittelgang machte er dem Messner zuliebe einen Knicks. Eine der Kunststudentinnen tippte etwas in ihr Handy. Die andere warf dem Messner einen wütenden Blick zu, sie wollte endlich die Wandteppiche ungestört fotografieren.
    Jensen verließ die Salvatorkirche mit einer plausiblen Theorie über die Unvorhersagbarkeit der Zukunft.
    Das können nicht viele Kirchgänger von sich behaupten, dachte er.

    Er schaltete das Licht ein. Im Badezimmer hingen frische Handtücher. Das Shampoo war ersetzt worden, zwei neue Fläschchen standen neben dem Zahnputzglas. Wie lange wohnte er jetzt schon im De Tuilerieën? Er konnte sich nicht mehr genau erinnern. Fünf oder acht Nächte vor Island, dann seither zwei, macht zehn, dachte er. Jede davon eine teure Nacht, aber andererseits verwöhnte man ihn wie einen Säugling. Das Zahnputzglas war mit einem Papierhäubchen bedeckt. Die Bettwäsche, er hatte sich vorhin davon überzeugt, duftete nach Waschmittel, das Bett war nach

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