Der Assistent der Sterne
vielleicht ganz einfach auf seiner Kenntnis eines sehr irdischen Plans.
Das hatte jetzt Priorität: ein Gespräch mit Lulambo. Die Lesebrille, dachte Jensen, läuft mir nicht weg. Er warf einen letzten Blick in die Auslage des Optikergeschäfts, ohnehin gefiel ihm keine der Brillen.
Auf dem Marktplatz stieg Jensen in ein Taxi, denn so ersparte er sich die fünfzehn Gehminuten von hier bis zu seinem Wagen. Er nannte der Fahrerin die Adresse von Jorn Lachaerts Haus. Automatisch begann sie über das Wetter zu reden, die außergewöhnliche Kälte, die sie auf den erhöhten Energieverbrauch Chinas zurückführte. Jensen hörte ihr schon bald nicht mehr zu, im Minutentakt sagte er »Ja«, einmal allerdings an der falschen Stelle.
»Das finden Sie richtig?«, fragte die Fahrerin. Sie verstellte den Rückspiegel, um ihn besser sehen zu können.
»Nein«, sagte er. »Nein.«
»Das hätte mich auch gewundert.«
Sie erreichten Trees Lachaerts Haus, Jensen bat die Fahrerin, zu warten. Über den frischen Schnee ging er zur Tür, er klingelte, klopfte. Glücklicherweise war Jorn nicht zu Hause, er wäre ihm ungern begegnet. Jensen kritzelte Annicks Handynummer auf einen Zettel, mit dem Vermerk, Jorn möge sie doch bitte anrufen, dringend. Er klemmte den Zettel in den Türspalt und betrachtete seine Aufgabe als erledigt. Doch dann fiel ihm auf, dass das Küchenfenster sperrangelweit offen stand. Bei dieser Kälte konnte das nicht in Jorns Interesse sein. Er hatte entweder vergessen, es zu schließen, oder er war doch zu Hause, taub für das Klingeln und Klopfen, weil er seinen Rausch ausschlief. Um zum Fenster zu gelangen, musste Jensen ein Stück durch den verschneiten Garten gehen, Schnee geriet ihm in die Schuhe; nasse, kalte Socken, es erinnerte ihn an Kindheitstage. Er blickte durchs offene Fenster in die Küche. Auf dem Tisch lagen zwei leere Ginflaschen. Ein Stuhl war umgestürzt. Von einer der Herdplatten stieg dünner, schwärzlicher Rauch auf.
»Jorn? Sind Sie da?«
Vom Küchenschrank über dem Herd tropfte etwas auf die Herdplatte, daher der Rauch: Plastik schmolz, weil unten die Herdplatte glühte. Jensen hievte sich am Fensterbrett hoch, bäuchlings lag er zwischen drinnen und draußen. Er war nicht mehr gelenkig genug, um auf würdige Weise durch ein Fenster zu klettern. Beim Versuch, sein Bein überdie Fensterbrüstung zu schwingen, schlug er sich das Knie an. Der Taxifahrerin, die ja in unmittelbarer Nähe im Wagen wartete, war er hinterher eine Erklärung schuldig, das stand fest. Als er endlich drin war, schaltete er den Herd aus, dessen Hitze die Unterseite des Küchengestells aufgeweicht hatte; an dünnen, zähen Fäden hingen mehrere Plastiktropfen, die nun erstarrten.
Jensen öffnete die Küchentür, er trat in den Korridor.
»Jorn!«, rief er.
Es widerstrebte ihm zutiefst, sich um einen Säufer kümmern zu müssen.
»Jorn? Sind Sie da? Nein?« Auch gut, dachte Jensen. Er schlug die Küchentür zu. Seine ganze Kindheit hatte sich um eine Säuferin gedreht. Wie schafft man sie ins Bett, wenn sie im Badezimmer schnarchend in der eigenen Kotze liegt? Wohin mit dem verkotzten Teppich? Wo versteckt man die Flaschen? Wie verzeiht man ihr?
Das ist vorbei, dachte Jensen.
Die zwei Ginflaschen lagen auf einer Landkarte. Jorn hatte sie auf dem Tisch ausgebreitet, und um zu verhindern, dass sie sich zusammenrollte, hat er die Karte an beiden Enden mit je einer Ginflasche beschwert, und über dem Studium der Karte waren die Flaschen allmählich leer geworden. Und wohin hatte Jorn sich weggeträumt? Nach Surinam. Die Karte zeigte das südamerikanische Land, die ehemalige niederländische Kolonie, überraschend war das nicht. Es gab wohl keinen flämischen Mann, der nicht schon einmal daran gedacht hatte, alles stehen und liegen zu lassen und nach Surinam zu verschwinden. Um die Stadt Wageningen in der Nähe der Küste hatte Jorn einen Kreis gezeichnet. Der Atlantische Ozean war mit Zahlen bekritzelt.
7000. Durchgestrichen.
8000. Dahinter ein Ausrufezeichen.
2.30.
Albertdock. Zweimal durchgestrichen.
Leopolddock. Ausrufezeichen.
Plante Jorn eine Reise? Jetzt, da seine Frau im Krankenhaus lag? Vielleicht hatte er sie überraschen wollen, mit einer Schiffsreise nach Surinam. Der Bericht der Ärzte war ja zunächst ermutigend gewesen, man hatte mit einer Genesung gerechnet. Und er weiß noch nicht, dass sie gestorben ist, dachte Jensen. Warum eigentlich nicht? Die Ärzte hatten versucht, ihn telefonisch zu
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