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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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mir einen Gefallen, Hannes.«
    »Ja?«
    »Fahr zu Jorn. Vielleicht ist er zu betrunken und geht deshalb nicht ans Telefon. Fahr zu seinem Haus und schau nach, ob er dort ist. Wenn nicht, hinterlass einen Zettel. Er soll mich sofort anrufen.«
    »Ein Zettel«, sagte Jensen. »Das werde ich tun.«
    »Und das andere«, sagte sie. »Das, was ich dir zeigen wollte. Das ist jetzt nicht der Moment. Das verstehst du doch. Wir machen das später.«
    »Natürlich. Später. Und nachher? Wenn ich bei Jorn war? Möchtest du, dass ich wieder hierherkomme?«
    »Das ist nett von dir. Aber ich möchte heute allein sein. Ich war so wütend auf Trees. Und jetzt ist sie tot, und ich bin immer noch wütend auf sie. Aber das möchte ich nicht, verstehst du? Ich brauche einfach Zeit. Den Toten muss man vergeben. Ich möchte, dass mir das gelingt.«
    »Das verstehe ich. Dann fahre ich jetzt zu Jorn.«
    Er löste sich aus der Umarmung, das Telefon war fünf beschämende Schritte entfernt. Er musste für diese fünf Schritte eine Begründung finden. »Die Blumen in der Vase«, sagte er. »Sie sind welk. Ich werfe sie weg.«
    Annick zuckte die Achseln.
    »Ich möchte nicht, dass jetzt verwelkte Blumen hier herumstehen«, sagte er. Er zog sie aus der Vase, sie raschelten. »Du kannst mich jederzeit anrufen«, sagte er, während er den Telefonstecker aus der Buchse zog. Mit der Schuhspitze schob er den Stecker an die Wand. Annick war für Verstreken jetzt nicht mehr erreichbar. Die welken Blumen in seiner Hand passten zu seinem Gefühl der Schäbigkeit. Jensen war auf verwelkte Blumen allergisch, so wie sie allergisch darauf ist, dachte er, belogen zu werden. Er konntedem Drang nicht widerstehen, einen Teil der Schuld auf Annicks Schultern zu verlagern. Wie gern hätte er ihr alles gestanden, aber dieser Weg war ihm verbaut. Sie würde ihm ein spätes Geständnis nicht verzeihen, das hatte sie ihm ja deutlich zu verstehen gegeben. Sie hatte den Preis für ein Geständnis hochgetrieben, die Wahrheit würde ihn Haus und Kind kosten, das Haus beim Minnewater-Park und das Mädchen Marleen. Er öffnete das Fenster zur Straße und warf das Verdorrte hinaus.
    In der Vlamingstraat, auf dem Weg zu seinem Wagen, blieb Jensen vor dem Optikergeschäft stehen. Zwei kleine Mädchen, die Hand in Hand gerade von der Schule kamen, drückten sich kichernd an ihm vorbei. Jensen schaute ihnen nach; noch lieber hätte er jetzt ein Tier betrachtet, eine Katze, die sich die Pfoten leckte, eine Krähe, die ihr Gefieder putzte, wie vorhin auf dem Friedhof. Er begriff, dass ihn daran die Unschuld interessierte. Der Sternenhimmel in einer Frühlingsnacht, in der die Luft nach Glyzinien duftete, ein Regentropfen, der auf eine Ameise fiel und sie aus dem Tritt brachte: All diese Dinge waren unschuldig. Man konnte mit ihnen eins werden, wenn man es mit sich selbst nicht mehr aushielt. Er hatte das Bedürfnis, sich ins Gesicht zu schlagen, eine katholische Regung, die Wiedererlangung der Unschuld durch Buße, mea culpa, mea maxima culpa, und er tat es: Er schlug sich mit der rechten Hand auf die Wange, und tatsächlich wurde die Last ein wenig leichter.
    Die Brillen im Schaufenster des Optikergeschäfts waren alle auf ihn gerichtet.
    An Trees Lachaerts Tod hatten viele mitgearbeitet, am eifrigsten sie selbst, ganz zu schweigen von Lulambo, der doch zweifellos der Hauptverantwortliche war. Er hatte dasGrab geschaufelt, Trees Lachaert hatte sich bereitwillig an den Rand gestellt.
    Und du hast ihr den letzten Stoß versetzt, dachte Jensen.
    Aber war er nicht andererseits nur der Träger des Bissmals, ein blindes Glied in einer Verkettung blinder Zufälle? Die Tochter hatte ihm das Mal in den Hals gebissen, und der Anblick des Mals hatte den Tod der Mutter verursacht. Das war, nach allem, was Jensen im Gouden Reaal erfahren hatte, eine ironische Fügung. Aber es fehlte bei allen die Absicht. Ilunga Likasi hatte ihn nicht gebissen, um ihre Mutter zu töten, und er hatte Trees Lachaert die Bisswunde nicht vorsätzlich gezeigt.
    Ohne Absicht keine Schuld.
    Ego te absolvo.
    Die Frage war, ob das auch für Lulambo galt. Er mochte ein Gefangener seines Erdgeistes sein, ein verwirrter Schwafler, aber vielleicht täuschte dieser Eindruck. Alles deutete doch auf ihn. Er hatte die Prophezeiung in die Welt gesetzt, und jetzt, da sie sich zu erfüllen schien, ist es an der Zeit, dachte Jensen, dass du die Prophezeiung ernst nimmst. Denn Lulambos rätselhafte Kenntnis der Zukunft beruhte

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