Der Assistent der Sterne
Abitur hat jetzt natürlich Vorrang. Die Fremdsprachen sind für Sinja kein Problem, sie spricht schon besser Französisch als die Arbeitslosen in Charleroi unten.« Stassen lachte kurz. »Nein, im Ernst. Sie ist in allen Fächern unter den ersten drei ihrer Klasse. Außer in Mathematik. Das ist ihr wunder Punkt. Unser Schulsystem ist zu sehr auf Mathematik ausgerichtet. Physik, Chemie, Biologie, überall brauchst du Mathematik. Es interessiertkeinen, wie gut du Klavier spielst. Jedenfalls machen wir uns Sorgen, dass sie das Abitur eventuell nicht schafft. Sie braucht jemanden, der sie in Mathematik durchboxt, der ihr Nachhilfestunden gibt. Also. Vielleicht ist es dir ja lieber, wenn eine Hand die andere wäscht. Dann wären wir quitt.«
»Ich würde dir gern helfen, Frans. Aber ich verstehe absolut nichts von Mathematik.«
»Na, hör mal! Du hast dich doch frühzeitig pensionieren lassen, um dich ganz der Physik zu widmen. Das hast du jedenfalls immer so herumerzählt.«
»Ja, aber ich interessiere mich für Physik wie andere sich für die Oper. Sie lieben die Oper, aber sie singen nicht mit.«
Stassen glaubte ihm nicht.
»Wie du meinst«, sagte er. »Vielleicht denkst du ja noch mal darüber nach. Also. Wir sehen uns in drei Tagen.« Er hob zum Abschied die Hand, aber dann kam ihm noch etwas in den Sinn. »Hab ich da wirklich ein Muttermal? Am Hals?«
»Ja.«
Stassen rieb sich über den Hals.
»Das kann aber noch nicht lange da sein«, sagte er besorgt. »Das wäre mir doch aufgefallen. Ist es schwarz?«
»Dunkelbraun.«
»Größer als fünf Millimeter?«
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21
W as musste getan werden? Jensen erstellte im Kopf eine Liste.
Annick.
Lulambo.
Eine Lesebrille.
De Reuse (war er noch in Island?).
Auf dem Weg zum Kortewinkel rief er Annick an.
»Sei mir nicht böse«, sagte er. »Das Gespräch hat länger gedauert, als ich dachte. Ich bin aber gleich bei dir, in einer Viertelstunde.«
»Ja«, sagte sie nur. Sie legte auf.
Jensen beeilte sich. Das Telefon. Er musste es ausstecken.
Und nicht darüber nachdenken, dachte er. Tu einfach, was du tun musst. Sein schlechtes Gewissen würde ihm sonst die Hand lähmen.
Im Kortewinkel angekommen, klopfte er an die Tür, zusätzlich klingelte er, jede Minute zählte.
Annick öffnete die Tür, und er sah sofort, dass etwas geschehen war. Ihr Gesicht war blutleer, hart, die Lippen waren daraus verschwunden.
Sie weiß es, dachte er. Verstreken hat sie angerufen. Verstreken war ein Pedant.
»Geht es dir gut?«, fragte Jensen. In ihrer schwarzen Sonnenbrille spiegelte sich sein Gesicht, grotesk verzerrt.
»Nein«, sagte sie, sie schüttelte den Kopf, sie litt, und er ertrug es nicht. Augenblicklich verwarf er den widerwärtigen Plan, den er mit Stassen geschmiedet hatte.
»Annick«, sagte er. Er sammelte die richtigen Worte. Siewusste es, aber er wollte, dass sie es jetzt auch von ihm hörte, ein Geständnis bot immer auch die Möglichkeit der Korrektur, der Rechtfertigung. Aber bevor er die Worte für ein ihn entlastendendes Geständnis beisammen hatte, umarmte sie ihn.
»Komm rein«, sagte sie. »Setz dich.«
Die Umarmung verwirrte ihn. Es konnte bedeuten, dass sie bereit war, ihm zu verzeihen. Das hätte er sich gewünscht, aber so ist es nicht, dachte er. Er spürte es jetzt: Es ging gar nicht um ihn. Er war noch einmal davongekommen, er durfte weiterlügen.
Sie schloss die Tür, und er setzte sich auf den Sessel neben dem Sofa. Er drehte sich nach ihr um, sie war bei der Tür stehen geblieben. Sie trug keine Schuhe, das war außergewöhnlich, sie ging sonst nicht einmal barfuß ins Badezimmer.
»Willst du dich nicht auch setzen?«, fragte er.
»Trees ist gestorben.«
Die Erleichterung und seine Scham darüber vertrieben ihn aus dem Sessel; er stand auf, er umarmte Annick und war froh, dass sich ihre Trauer nun auch auf ihn übertrug.
»Das tut mir leid«, sagte er, für sie tat es ihm leid. Er strich ihr über den Rücken, und lange standen sie so da, in einer stillen Umarmung. Dann hob er den Blick: über ihre Schulter hinweg sah er das Telefon. Es stand auf der Kommode, neben einer Vase mit welken Blumen. Ihre Stiele waren verdreht, als hätten die Blumen sich während des Verdurstens gewunden; ein verdorrtes Blütenblatt hing an einem letzten Faden.
»Wann?«, fragte Jensen.
»Heute Nacht.« Sie atmete tief ein. »Um halb fünf Uhr. Jemand vom Krankenhaus hat mich angerufen, vor einerhalben Stunde. Sie konnten Jorn nicht erreichen. Tu
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