Der Assistent der Sterne
erreichen. Trees Lachaert war frühmorgens gestorben, um halb fünf, und kurz darauf hatte doch hier das Telefon geklingelt. Hatte Jorn es ausgesteckt? Wenn Jensen früher von der Schule nach Hause gekommen war, hatte er stets als Erstes nachgeschaut, ob das Telefon ausgesteckt war. Es war ein Indikator gewesen für den Zustand seiner Mutter. Vor Gewalträuschen versuchte sie, das Haus von der Außenwelt abzuschotten; nur ihre Kinder und ihr Mann besaßen das Privileg, ihren erbärmlichsten Momenten beiwohnen zu dürfen.
Das Telefon der Lachaerts stand im Wohnzimmer. Jensen hob den Hörer ab, Summton, das Telefon war eingesteckt. Die schlechte Nachricht aus dem Krankenhaus hätte Jorn also erreichen müssen. Es sei denn, er hatte in der vergangenen Nacht nicht hier geschlafen. Seine Frau liegt im Spital, und er schläft außer Haus? Jemand anders als Jensen hätte das für merkwürdig gehalten. Er ist ein Säufer, dachte Jensen, es passt ins Bild. Brügge war allerdings eine sittsame Stadt, ohne Spelunken, in denen jemand wie Jorn sich durch die Nacht saufen konnte. Aber eine Spelunke war ja nicht nötig, es genügte ein Kumpan, in dessen Wohnung man die Flaschen klirren ließ, bis ein todesähnlicher Schlaf einen endlich erlöste. Am nächsten Morgen wachte der eine in der Pisse des anderen auf.
Jensen warf trotzdem noch einen Blick ins Schlafzimmer, nur um sicher zu sein, dass Jorn dort nicht mit offenen Augen an die Decke starrte. Bei Jorns Lebenswandel wäre das nicht erstaunlich gewesen, ein neuer Schlaganfall, ein Herzstillstand, vielleicht nur Minuten bevor das Telefon geklingelt hatte. Das Bett war aber unberührt.
Er treibt sich herum, dachte Jensen.
Damit war die Angelegenheit für ihn erledigt. Er ging in die Küche zurück, kletterte, diesmal etwas eleganter, aus dem Fenster und zog es von außen zu.
Er stieg ins Taxi, die Fahrerin legte ihr Kreuzworträtsel zur Seite.
»Zur Ringstraße«, sagte er. »Höhe Smedenpoort.« Dort hatte er seinen Wagen geparkt.
Die Fahrerin startete den Motor, und es schien, als übertrage sich die Drehung der Kurbelwelle auf ihr Mundwerk. Sie beklagte sich darüber, dass sie kürzlich in Brüssel in einem Restaurant auf Flämisch Schweinsragout bestellt habe, von der Kellnerin aber nicht bedient worden sei mit der Begründung, hier werde französisch gesprochen.
»Ich sagte: Moment mal, Hübschchen. In Brüssel ist Flämisch Amtssprache, falls Sie das nicht wissen. Und wenn wir Flamen euch Wallonen schon durchfüttern müssen … so ist das doch … wenn wir euch schon durchfüttern, dann will ich hier wenigstens in mijne taal Schweinsragout bestellen.«
Jensen war vor ihren Augen durch ein Fenster in ein Haus eingestiegen, und sie hatte es entweder nicht bemerkt, oder es war ihr egal. Obwohl es Jensen zugutekam, nahm er es ihr übel.
»Sie sind doch auch Flame?«, fragte sie, beunruhigt über Jensens Schweigen.
»Jedenfalls kein Wallone.«
»Dann also Niederländer.«
»Deutscher.«
Das brachte sie endlich zum Schweigen.
Kurz bevor sie den Smedenpoort erreichten, klingelte Jensens Handy. Es war weder Stassen noch Annick. Die Nummer auf dem Display war ihm unbekannt. Eine Antwerper Nummer, Festnetz. Einen Moment lang befürchtete Jensen, es könnte Verstreken sein, der ihn aus seinem Büro anrief. Das hätte nichts Gutes bedeutet. Aber Verstreken kannte ja seine Mobilnummer nicht. Es sei denn, Stassen hat mich verraten, dachte Jensen. Unsinn. Man konnte sich auf Stassen verlassen, und das war auch der Grund, warum sich das reimte. Er lachte. Sei nicht so ängstlich, dachte er und nahm den Anruf entgegen.
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22
» W ir müssen uns treffen«, sagte De Reuse. »Heute noch. Vor Einbruch der Dunkelheit. Es gibt da ein Wäldchen zwischen …«
»Sie sind nicht mehr in Island.«
»Natürlich nicht. Ich bin vorgestern abgereist. Ich musste feststellen, dass Van Gaever sehr anstrengend sein kann, wenn er Heimweh hat. Er lag nur noch im Bett, angeblich mit Fieber. Ich hielt es für besser, ihn nach Hause zu seiner Frau zu schaffen, nur schon mir zuliebe. Er wurde am Schluss weinerlich und sogar unflätig. Hören Sie mir jetzt zu. Fahren Sie auf der Autobahn Richtung Antwerpen. Beider Ausfahrt Bentille fahren Sie auf der N434 weiter, Richtung Bentille. Folgen Sie einfach …«
»Vorgestern«, sagte Jensen. »Dann sind Sie also seit Donnerstag wieder in Antwerpen.«
»Sie unterbrechen mich dauernd! Fällt Ihnen das nicht auf? Sie sollten mir zuhören. Denn
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