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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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der Stadt aufwachsen, dachte Jensen, undwenn sie nicht weiß, dass die Milch von Kühen stammt, wird sie sicherlich dennoch wissen, wo man sie sich besorgen kann.
    Missmutig blickte Jensen in die Gegend hinaus, die aus nichts als gefrorenen Feldern bestand, an deren Rändern die Einfamilienhäuser der Naturverbundenen ankerten, wie Pilgerschiffe am Ufer des verheißenen Landes. Der Himmel dunkelte bereits ein, und noch immer war De Reuse nicht am Ziel. Mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr er durch die Ortschaft Landsdijk. Jensen folgte ihm in erlaubtem Tempo; er wollte das Landleben nicht stören. Am Ortsausgang blickte er in den Rückspiegel, die Straße hinter ihm war leer, auf weiter Strecke.
    Fünfzig Meter Abstand, dachte Jensen.
    Selbst in einer ländlichen Gegend wie dieser durfte ein Beschatter nicht weiter als diese fünfzig Meter zurückfallen; andernfalls bestand die Gefahr, dass er den Zielwagen aus den Augen verlor. De Reuse wurde also nicht überwacht.
    Ich werde mit ihm allein sein, dachte Jensen.
    Sie fuhren eine Weile auf einer schmalen Landstraße, im letzten Licht des Tages. Der Blinker des Jaguars leuchtete auf. Sie bogen auf einen Feldweg ab, die Fahrt wurde holprig. De Reuse hatte einen auffälligen, kleinen Wald erwähnt, und da vorn war einer. Aus dem flachen Land, das ihn umgab, ragte er empor wie eine Festung. Der Eindruck des Trutzigen entstand durch die strenge, geometrische Form: Der Wald war nahezu rechteckig, die Baumwipfel wirkten getrimmt, so als habe man sie auf dieselbe Höhe gestutzt. In großer Entfernung glitzerten die Lichter der letzten Häuser. Der Wald war so weit weg von jeder Siedlung, wie das in Flandern möglich war.
    Wusste De Reuse von der Nacht in Reykjavík? Eifersuchtwar ein alltägliches Motiv, und du hast keine Waffe, dachte Jensen, er aber vielleicht schon.
    Am Waldrand stieg De Reuse aus. Er gab Jensen durch ein Handzeichen zu verstehen, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Jensen schaltete den Motor aus und beobachtete De Reuse, der aus dem Kofferraum einen Gegenstand holte. Es war bereits zu dunkel, Jensen konnte nicht genau erkennen, was es war. Ein kurzer Spaten? De Reuse winkte ihm und verschwand im Wald. Jensen traf Vorbereitungen für eine Flucht: Er ließ den Wagenschlüssel stecken, auch die Tür blieb einen Spalt offen, damit er sich notfalls schnell hinters Steuer setzen konnte. Verstreken hatte De Reuse bestimmt den Zettel gezeigt, Ilunga Likasis Drohbrief, den Beweis ihrer Untreue.
    Jensen folgte De Reuse in den Wald, wachsam und misstrauisch. Ilunga Likasi hatte De Reuse einen Mord zugetraut. Auch das musste man bedenken.
    Und du hast nichts in der Tasche, dachte Jensen, außer einem ungültigen Dienstausweis und einer halb ausgedrückten Tube.
    Das Wäldchen war klein, die Mitte schnell erreicht. Dort wartete De Reuse, mit geschultertem Spaten. Zwischen den Bäumen konnte man, wenn man wie Jensen darauf Wert legte, immer noch das eine oder andere Licht jener entfernten Häuser erkennen.
    »Also«, sagte Jensen. »Warum sind wir hier?«
    Der Spaten machte ihm Sorgen.
    »Das ist mein Schiff«, sagte De Reuse. Er blickte in die kahlen Baumkronen, von denen im Wind Schneestaub rieselte. »Ich bin in dem Kaff da hinten aufgewachsen. In Boekhoute. Sehen Sie die Lichter?« Er wies mit dem Spaten in ihre Richtung. »Als Kind war ich oft in diesem Wald. Für die anderen Kinder sah er aus wie eine Burg. AlleBäume gleich hoch. Und rechte Winkel. Das kann doch wohl nur eine Burg sein, nicht wahr? Im Winter wurde um sie mit Schneebällen gekämpft, im Sommer mit Steinen. Ich spielte natürlich mit, aber nur halbherzig. Und wissen Sie, warum, Jensen? Weil ich als Einziger erkannt hatte, dass es keine Burg ist. Es ist ein Schiff. Im Sommer, wenn der Wind in die Blätter fährt, blähen sich die Baumkronen auf. Die Stämme ächzen wie die Masten eines Segelschiffs. Abends bin ich oft noch einmal allein hierhergekommen. Und dann konnte ich jeweils spüren, wie das Schiff ein kleines Stück weit über die Äcker treibt. Verstehen Sie? Die anderen Kinder waren glücklich, es gefiel ihnen in Boekhoute, sie waren an Veränderungen nicht interessiert. Deshalb sahen sie in diesem Wald eine Burg. Aber ich war nicht glücklich, ich wollte weg. Mein Vater war krank«, sagte er beiläufig. »Eine Burg hätte mich nicht vor ihm geschützt. Er hätte die Mauern mit bloßen Händen zertrümmert. Er war gewissermaßen eine Naturgewalt, stark und rücksichtslos. Die einzige

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