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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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innen heraus.
    Ein Elektron, das um ein Atom kreist, dachte er, will möglichst langsam kreisen. Am liebsten hätte es sich gar nicht bewegt, aber das Gesetz, wonach alles im Universum sich bewegen muss, verwehrte ihm diesen Wunsch. Ein Jogger, der auf einer Aschenbahn seine Runden drehte, durfte nicht stehen bleiben, er wäre sonst kein Jogger mehr gewesen. Wollte er Jogger bleiben, musste er weiterlaufen. Nach einigen Stunden, wenn sich die Erschöpfung bemerkbar machte, strebte er den idealen Zustand an: Jogger bleiben, aber mit möglichst geringem Kraftaufwand. Er bewegte sich nur noch gerade so schnell, wie nötig war, um nicht stehen zu bleiben. Wenn ihn nun jemand auf der Tribüne anfeuerte, er solle schneller laufen, verlieh ihm das die Energie, eine Weile lang das Tempo wieder zu erhöhen. Damit war aber ein Unbehagen verbunden, er sehnte sich nach dem idealen Zustand zurück, und früher oder später ließ er sich wieder in ihn fallen. Den Elektronen ging es nicht anders: Wenn man ihnen, während sie ihr Atom umrundeten, zusätzliche Energie zuführte, setzten sie alle ihnen zur Verfügung stehenden Hebel in Bewegung, um die Energie wieder abzustoßen und in den idealen Zustand der niedrigsten Energie zurückzufallen.
    Aus diesem Grund, dachte Jensen, leuchten die Blaulichter da vorn. Glühbirnen leuchteten, weil die Elektronen ihre Energielast abwarfen, ein Befreiungsakt, bei dem Photonen entstanden, die vom menschlichen Auge als Licht wahrgenommen wurden. Licht in dieser Form war der Ballast, den die Elektronen über Bord warfen, um wieder in den idealen Zustand geringster Energie zu gelangen.
    Dieser Wunsch der Elektronen nach einer größtmöglichen Annäherung an den Stillstand übertrug sich selbstverständlich auf alle Dinge, in denen Elektronen vorhanden waren, also auf schlechthin sämtliche Materie. Tiger, Rosen, Menschen, sie alle strebten den Zustand niedrigster Energie an.
    Ins Menschliche übersetzt, dachte Jensen, bedeutet niedrigste Energie Wahrheit. Eine Abweichung von der Wahrheit war stets mit einem erhöhten Energieaufwand verbunden. Eine Lüge erforderte permanente Wachsamkeit, das Herz schlug auch im Schlaf schneller, jederzeit musste man bereit sein, Ungereimtheiten aus der Welt zu schaffen, Plausibilitäten zu konstruieren, Widersprüche zu antizipieren. Man kriecht mit De Reuse in ein Erdloch, dachte Jensen, man eilt weiter, nach Antwerpen, zu Lulambo, und dann, was kommt als Nächstes? Eine Lüge bestand einzig aus der Energie, die man in sie steckte. Je größer die Lüge, desto mehr Energie war erforderlich, um sie aufrechtzuerhalten. Folglich befand sich ein Lügner permanent in einem energetisch hochangeregten Zustand, der erst nach einer Phase der Gewöhnung nicht mehr als unangenehm empfunden wurde. Die Wahrheit hingegen entsprach demZustand völliger Entspannung, der Gelassenheit, der Ruhe. Zur Aufrechterhaltung der Wahrheit war keinerlei Energie notwendig, sie war ein stiller See, auf dem ein Birkenblatt ruhte.
    Wie gern hätte Jensen sich aus dem angeregten Zustand des Lügners in die Wahrheit fallen lassen. Für ihn gab es aber bestenfalls ein Patt: Um Annick die Wahrheit über die Nacht in Island weiterhin verschweigen zu können, musste er die Wahrheit über Ilunga Likasis Verschwinden herausfinden. Bis dahin blieb ihm der Zustand niedrigster Energie verwehrt.
    Hinter ihm hupte jemand, der wider alle Vernunft hoffte, dass sein Protest die Bergung des umgestürzten Lieferwagens beschleunigte. Mit dem letzten Hupton begann Jensens Handy zu klingeln.
    »Ich bin auf dem Weg nach Antwerpen.« De Reuse presste jedes Wort zwischen den Zähnen hervor.
    Jensen blickte in den Rückspiegel. Wahrscheinlich saß De Reuse nur ein paar Wagen hinter ihm im selben Stau fest, er hatte doch bestimmt auch die Autobahn gewählt.
    »Ich habe eine Verabredung mit jemandem, den Sie kennen«, sagte De Reuse.
    Mit Verstreken, dachte Jensen.
    »Die Pistole liegt hier neben mir auf dem Sitz. Eingewickelt in ein Taschentuch. Es könnte ja sein, dass Sie vergessen haben, Ihre Fingerabdrücke auf dem Griff zu beseitigen.«
    Keineswegs. Jensen hatte die Pistole an seinem Pullover sauber gerieben, und sie erst dann in den Schacht geworfen.
    »Aber ich bin Ihnen noch eine Antwort schuldig, Jensen. Und falls Sie das, was ich Ihnen jetzt sage, aufzeichnen: Bitte. Tun Sie das. In einer Stunde werde ich Ihrem Kollegen ohne Abstriche jedes Wort genau so zu Protokoll geben. Ich habe Sie bis jetzt geschützt,

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