Der Atem der Angst (German Edition)
kommen können, zur Kriminalpolizei zu gehen? Warum hatte sie nicht auf ihre Eltern gehört und war Grundschullehrerin geworden? In der Stadt hatte sie jahrelang mit Überfallen, Schlägereien und auch schon mit Mord oder Totschlag zu tun gehabt. Aber nie mit dieser Art von Grausamkeit. Das hier war nichts für sie. Plötzlich kam sie sich für diese Angelegenheit nicht ausreichend ausgebildet vor. Neben ihr hockte Henner und schluchzte.
Sie strich ihm über den Rücken. » Beruhige dich. Wir machen das zusammen. Wir machen das dieses Mal zusammen.«
Er nickte hektisch und wischte sich mit dem Jackenärmel über die Augen. » Danke!«
Vorsichtig streckte Heidi ihre Hand aus und schob sie unter Leonies Kinn. » Oder möchtest du, dass ich das alleine mache?«
Henner schüttelte den Kopf. » Ich schaffe das schon.«
» Okay, dann wollen wir mal.« Heidi legte Zeige- und Mittelfinger unterhalb des zarten Kieferknochens des Mädchens. Sie spürte keinen Puls. » Was ist das da? Das Blaue?« Heidi wies auf Leonies Hand.
Henner streckte nun auch seine Hand ins Innere der engen Kiste und zog die Hand des kleinen Mädchens etwas nach oben. » Das ist ein Ring. Siehst du? Ein kleiner hellblauer Delfin?«
Heidi sah ihn. Es war der Ring, den Leonie neulich bei Winnies Geburtstagsparty beim Topfschlagen gewonnen hatte. Sie hatte ihn selbst unter den Topf gelegt, weil sie fand, dass er so gut zu Leonie passte. » Diese Bestie!«
Heidi bohrte sich mit den Schuhspitzen in den Waldboden, um nicht in die Grube zu rutschen. Sie durfte nicht darüber nachdenken, wie sehr dieses Mädchen gelitten haben musste. Behutsam hob sie Leonies Kopf an und diktierte in ihr Aufnahmegerät. » Sie hat eine rosa Strähne, sieht aber nicht frisch gefärbt aus.«
Henner strahlte dem Mädchen mit der Taschenlampe ins starre Gesicht. Die Haut war wachsweiß. Auch er legte jetzt zwei Finger auf ihre Halsschlagader.
Heidi ließ das Kinn wieder los. » Wann kam der Hundehalter hier hoch?«
» Vor etwa vierzig Minuten.«
» Hätte der nicht ein bisschen früher vorbeikommen können?« Heidi blickte Henner durchdringend an. Innerlich kämpfte sie gegen den Schock an. » Wir müssen herausfinden, wie lange es ein Kind in einer Kiste dieser Größe aushält, bis es erstickt.«
Henner nahm einfach nicht seine Finger von Leonies Halsschlagader. Heidi flüsterte: » Das hat doch keinen Zweck.« Sie betrachtete Leonies glänzenden Trainingsanzug, der leicht nach Weichspüler duftete. Langsam bewegte sie sich in der Hocke um die Grube herum. Da war noch etwas. Sie gab Henner einen Wink, ihr mit der Taschenlampe zu leuchten. » Ich brauche ein Tütchen und eine Pinzette.«
Einer der weißen Männer von der Spurensicherung kam heran und reichte ihr beides. Heidi robbte ganz dicht an die Grube heran, streckte ihren Arm mit der Pinzette aus und zog etwas zwischen Haar und Schulter aus dem Nacken von Leonie hervor. Eine Blüte. Eine pinkfarbene Blüte. Die hielt sie sich unter die Nase. » Sie ist echt. Exotisch und echt.« Die Blüte plumpste in die durchsichtige Tüte, die augenblicklich von Heidi verschlossen wurde.
» Hat es diese besondere Zutat damals auch gegeben?«
Henner schüttelte den Kopf. » Ansonsten erinnert alles ans letzte Mal. Der Wald. Das kleine Mädchen. Der Turnanzug.«
Das Martinshorn des Rettungswagens, der sich die Serpentinen hinaufschraubte, durchbrach die nächtliche Stille. Das blaue Licht flackerte durch die hohen Bäume und reflektierte im immer dichter werdenden Nebel.
Heidi schnaufte. » Unauffälliger geht’s wohl auch nicht. Wenn wir Pech haben, haben sich Leonies Eltern direkt hinten drangehängt. Ist doch wohl klar, was los ist, wenn das Ding um diese Uhrzeit hier hochbrettert.«
Henner tastete noch immer an Leonies Halsschlagader herum. » Himmel! Ich habe es gewusst!«
» Was?« Heidi rappelte sich auf.
Von hinter der Absperrung hörte sie wieder Robert rufen. Er war also immer noch da. » He, Heidi! Was habt ihr da gefunden? Ein paar Worte! Bitte!«
Sie hob die Hand. Bevor sie nicht mit den Eltern, mit Jens und Sarah gesprochen hatte, würde sie gar nichts sagen. » Rufen Sie morgen früh auf dem Präsidium an, dann sagen die Ihnen höchstpersönlich, wann die Pressekonferenz stattfindet.«
Henner starrte sie an. » Da ist noch Puls. Ich fasse es nicht! Heidi! Da ist Puls! Das Mädel lebt!«
16 . MAYA
In der Höhle war es beinahe dunkel. Nur etwas fahles Mondlicht drang durch den schmalen Höhleneingang
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