Der Atem der Angst (German Edition)
als hätten sie flüchtig etwas wahrgenommen. Mit einem Mal wirkte er sehr aufgeregt.
Er strich ihm beruhigend über den Unterarm. » Ich fahre morgen hin und lege frische Blumen aufs Grab. Soll ich ihm etwas von dir ausrichten?«
Sein Vater schien zu lächeln.
» Ich verstehe schon. Dass du ihn geliebt hast.« Er stand auf und ging ums Bett herum. Am Fenster blieb er stehen und zog die Lamellen der Jalousie etwas auseinander, um hinaus in den herbstlichen Park zu spähen. » Weißt du, wer plötzlich in St. Golden aufgetaucht ist?«
Sein Vater war ihm mit den Augen gefolgt.
Er beobachtete die wenigen Patienten, die von Pflegern in Rollstühlen eilig durch den einsetzenden Regen Richtung Pflegeheim geschoben wurden. » Heidi. Das Mädel, mit dem ich damals aufs Internat gegangen bin. Erinnerst du dich?« Er ließ die Lamellen los und drehte sich zurück in den Raum. » Die mit den Zöpfen. Ich habe dir oft von ihr erzählt, wenn ich am Wochenende nach Hause kam. Das Mädel, das mich wegen meiner verstümmelten Hand nicht in Ruhe lassen konnte. Es war, als wollte sie meine Fehlerhaftigkeit geradezu ausradieren.«
Er atmete tief ein. » Sie arbeitet jetzt bei der Polizei, Mordkommission. Und sie hat auch schon ihren ersten Fall zu lösen. Stell dir vor, Paps: Sie haben wieder ein Mädchen im Wald gefunden. Dieses Mal allerdings noch rechtzeitig.«
Sein weißhaariger Vater lächelte milde. Fast wie ein Baby, das zum ersten Mal bewusst seine Eltern erkannte.
Er lächelte zurück. » Heidi hat jetzt einen Sohn. Er ist beinahe genauso alt wie das Mädchen, das sie gefunden haben. Ungefähr acht Jahre. Ich habe ihn ein paarmal allein durch die Unterführung laufen sehen. Er holt sich im Supermarkt immer Süßigkeiten und Cola. Das Zeug ist gar nicht gut für Kinder. Die werden davon ganz zappelig, habe ich neulich in der Zeitung gelesen. Aber Heidi bekommt das gar nicht mit. Die ist viel zu sehr mit ihrer Arbeit beschäftigt. Der Junge und ich sind auch schon mal ins Gespräch gekommen. Vermutlich erinnert sich seine Mutter nicht mal mehr an mich und an das, was sie mir angetan hat. Was meinst du, Paps?«
Sein Vater zwinkerte. Seine Finger, die auf dem weißen Laken lagen, bewegten sich, als wollte er etwas sagen.
Er zuckte mit den Achseln. » Der Kleine sollte nicht alleine durch die Unterführung laufen. Nicht auszudenken, was ihm alles zustoßen kann.«
Er wendete sich vom Fenster ab, griff seufzend nach seinem Autoschlüssel, den er auf dem Nachtschränkchen abgelegt hatte, und drehte ihn in der Hand. »An Heidis Stelle wäre ich ein wenig vorsichtiger, wenn mir das Leben meines Jungen am Herzen liegt.«
Er beugte sich zu seinem Vater hinunter und küsste ihn auf die breite Stirn. » Ich vermisse dich, Paps. Du hättest das damals nicht tun dürfen. Es hat nichts Gutes gebracht. Nur noch mehr Leid.«
Wieder blickte ihn sein Vater aus seinen jungenhaften Augen fragend an. Was hatte sich sein Vater damals nur dabei gedacht? Er strich ihm über die Wange. Sein Vater. Er hatte nur für Gerechtigkeit sorgen wollen. Hatte für seine Söhne nur das Beste gewollt. Er flüsterte, fast mehr zu sich selbst: » Mach dir keine Sorgen um mich. Ich komme schon zurecht.«
Mit einem Mal lächelte er. Wenn Heidi wüsste, dass er heute über eine voll funktionsfähige Hand verfügte, mit der er alles tun konnte. Was immer er wollte. Sie würde sprachlos vor Staunen sein.
29 . HEIDI
Die Scheibenwischer kratzten über die trockene Windschutzscheibe, als Henner in Heidis Volvo in die Unterführung hineinraste und am anderen Ende wieder in den verhangenen Nachmittag hinausschoss. Mit quietschenden Reifen drehte er auf dem riesigen Parkplatz des 24-Stunden-Supermarkts eine große Kurve und bremste dann direkt vor dem Eingang abrupt ab. Zarte Sonnenstrahlen drückten sich durch die rissige Wolkendecke.
Heidi griff über das Lenkrad und klickte die Scheibenwischer aus. » Kannst die Dinger ausschalten. Es hat längst aufgehört zu regnen.«
Hinter ihnen hupte es wütend. Die Kunden waren alle auf der Suche nach einem freien Parkplatz.
» Meine Güte! Diese ungeduldigen Leute!« Henner sauste in einer gewagten Kurve in den letzten freien Parkplatz– den für Behinderte. Er stellte den Motor ab und sprang aus dem Wagen. » Bin gleich wieder da.«
Er knallte die Fahrertür zu und schlängelte sich zwischen geparkten Autos und Leuten mit überladenen XXL -Einkaufswagen hindurch bis zum Eingang, vor dem sich knallorangefarbene
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