Der Atem der Angst (German Edition)
Rosen. Ein schmaler Steinplattenweg führte zur Haustür. Hoch über ihnen prangte das neugotische Schloss der Stadt mit seinen beiden Furcht einflößenden Türmen. Angestrahlt vo n de n Scheinwerfern sah es aus, als wäre es aus purem Gold.
Heidi zog fröstelnd die Handbremse an. Über die Windschutzscheibe legte sich feiner Sprühregen. » Und Birgits Leiche wurde nie gefunden?«
Henner löste kopfschüttelnd den Sicherheitsgurt. » Nichts. Keine Spur. Keine Hinweise. Keine Indizien. Nichts. Sie war mit ihrer Clique zum Baden verabredet gewesen war, aber alle gaben später an, sie sei nicht am Treffpunkt erschienen.«
Heidi folgte ihrem Kollegen durch den Nieselregen bis zur Haustür. Auf dem Weg sortierte sie noch einmal sämtliche kriminologischen Fakten: Vor fünfundzwanzig Jahren war Birgit spurlos verschwunden. Kurz darauf erhängte sich Gero, der Sohn des Sägewerkers. Vor sieben Jahren wurde Isabel entführt. Noch bevor sie am Fuß des Hochsitzes im Wald gefunden wurde, erhängte sich ihr Vater, und der Sägewerker schoss sich in den Kopf. Der Entführer wurde nie gefunden. Und nun war die kleine Leonie auf die gleiche Weise entführt worden wie Isabel. Nur dass an ihrem Knöchel das Amulett gefunden wurde, das Birgit gehörte. Und als wäre das alles nicht verworren genug, fehlte nun auch von Leonies großer Schwester Michelle jede Spur.
Was für ein Berg von Unheil, Leid und Tod hatte sich in dieser Stadt aufgetürmt, die auf den ersten Blick so langweilig gewirkt hatte? Hingen all diese Fälle miteinander zusammen? Folgten sie alle einem logischen Muster? Gleich im Anschluss an das Gespräch mit Birgits Mutter und nachdem sie Winnie abgeholt hatte, würde Heidi eine Skizze von all den Ereignissen anfertigen.
Kurz nachdem Henner, mit der Pralinenschachtel unterm Arm, geklingelt hatte, wurde die Haustür nur so weit aufgezogen, wie es die Sicherheitskette zuließ. Dahinter erschien das traurige Gesicht einer alten Frau. Ihre Stimme klang müde: » Ja, bitte?«
Wenig später saßen Heidi und Henner auf knarrenden Korbstühlen im Wintergarten. In den mit Kondenswasser beschlagenen Fenstern lagen ein halbes Dutzend Katzen, ein paar schlängelten sich schnurrend um ihre Hosenbeine herum. In der Küche klapperte Birgits Mutter Sylvie mit dem Kaffeegeschirr. Es klang, als würde sie mit zitternden Händen hantieren. Zwar war das Verschwinden ihrer Tochter lange her, doch erfahrungsgemäß verhielten sich die Betroffenen noch Jahrzehnte später so, als sei das Unglück gerade erst über sie hereingebrochen.
Endlich kehrte Sylvie aus der Küche mit einem Tablett zurück, auf dem sich Kekse türmten, als hätte sie diesen Besuch seit Jahren erwartet. In ihrem Gesicht spiegelten sich Hof fnu ng und Trauer zu gleichen Teilen. » Bitte, greifen Sie zu.«
» Danke.« Ungeduldig sah Heidi zu Henner, der freundlich lächelnd in einen Keks biss und nicht so aussah, als würde er sich zum Grund ihres Besuches äußern. Was ihr lieb gewesen wäre. Er kannte ja die St. Goldener und ihre Empfindsamkeit. Also übernahm Heidi das, um die arme Frau nicht länger auf die Folter zu spannen. » Wir haben Birgits Amulett gefunden.«
Sylvie rutschte die Kaffeetasse aus der Hand. Sie plumpste samt dampfendem Inhalt auf ihren Rock. Trotz der kochend heißen Flüssigkeit sprang Sylvie nicht auf, sondern blieb wie betäubt sitzen. » Was?«, flüsterte sie. » Wo denn?«
Henner warf Heidi einen wütenden Blick zu, die Sylvie eilig ein paar Papierservietten reichte, damit sie sich den Kaffee abtupfen konnte. Als Sylvie nicht danach griff, ließ Heidi ihre Hand mit den Servietten sinken. War sie zu forsch vorgegangen?
Glücklicherweise übernahm nun Henner. Er legte seine Hand auf Sylvies Arm und erklärte mit sanfter Stimme: » Das können wir zu diesem Zeitpunkt aus ermittlungstechnischen Gründen nicht sagen.«
» Aus ermittlungstechnischen Gründen? Was soll das denn heißen?« Von Sylvies Knien tropfte der Kaffee ungehindert auf den hellen Teppich. Ihr Kinn zitterte. » Haben Sie Birgit gefunden?«
Heidi schüttelte bedauernd den Kopf. » Leider nicht. Nur ihr Amulett, wie gesagt. Laut der Vermisstenanzeige hatte sie das damals um den Hals, als sie verschwunden ist.«
» Sie hat es niemals abgenommen. Es war ihr Glücksbringer.«
» Wo war Birgit, bevor sie verschwand?«
In Sylvies Augen standen Tränen, die sie eilig mit dem Handballen wegwischte. » Das habe ich doch damals schon alles ihren Kollegen erzählt. Sie
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