Der Atem der Angst (German Edition)
Kürbisberge türmten. Heidi schüttelte den Kopf. Es war ihr komplett unklar, was ihr Kollege da drinnen vorhatte. Hauptsache, er beeilte sich. In einer knappen Stunde musste sie Winnie von der Schule abholen. Hinter ihr hupte es erneut. Dieses Mal noch wütender. Heidi stellte sich taub. Es hupte wieder. Im Stillen zählte sie bis zwanzig, wobei sie ihren Hinterkopf rhythmisch gegen die Kopfstütze schlug. Dieser verdammte Henner! Musste er ausgerechnet jetzt einkaufen gehen? Schließlich ließ der Fahrer einfach seine Hand auf der Hupe liegen.
Heidi stieß die Tür auf. » Mein Gott! Was ist?«
» Sind sie behindert?«
» Nein! Und sie?«
» Ja!«
Heidi zog die Tür wieder ran und atmete tief durch. Okay. Konnte sie ja nicht wissen! Nachdem ihre Gesichtsfarbe einmal von weiß zu rot und wieder zurück gewechselt hatte, rutschte sie rüber auf die Fahrerseite, drehte den noch steckenden Zündschlüssel herum und fuhr den Wagen rückwärts aus der Parklücke, sodass der Wagen hinter ihr hineinfahren konnte. Als sich Henner endlich mit zwei riesigen Pralinenschachteln wieder ins Auto zwängte, hatte Heidi mindestens zehnmal den Wagen umrangieren müssen, um wütend hupenden Supermarktkunden Platz zu machen.
» Sorry. War bisschen voll an der Kasse«, japste Henner und schnallte sich an.
Ohne zu antworten, fuhr Heidi rückwärts und schoss dann wieder raus auf den Zubringer in die Stadt. Erst als sie sicher war, nicht allzu genervt zu klingen, fragte sie: » Kannst du mir mal verraten, was das soll?«
Plötzlich strahlte ihr Kollege übers ganze Gesicht. » Meine Frau und ich haben heute sechsundzwanzigjähriges Jubiläum. Das soll uns erst mal einer nachmachen!«
Heidi seufzte und sauste in die Unterführung hinein. Sechsundzwanzig Jahre. Diese Glanzleistung hatte sie nicht mal annähernd vollbracht. Traurig, aber wahr. Eric und sie waren gerade mal neun Jahre verheiratet gewesen. Heidi rechnete kurz nach, dann fragte sie, mit Verwunderung in der Stimme: » Du warst schon mit deiner Frau zusammen, als ihr noch zur Schule gegangen seid?«
Henner stapelte die Schachteln auf seinen Knien. » Seit der elften Klasse. Ganz ohne Skandale.«
» Und da bringst du ihr gleich zwei Schachteln Pralinen mit?«
» Die andere ist für die Mutter von Birgit.«
» Das verschwundene Mädchen?« Heidi sah ihren Kollegen verständnislos an. » Wir gehen doch nicht zum Kaffeeklatsch! Wir wollen ihr Fragen zu Birgit und zum Tag ihres Verschwindens stellen.«
» Ja. Allerdings fünfundzwanzig Jahre, nachdem ihre Tochter verschwunden ist.«
» Ich wusste nicht, dass man da Pralinen mitbringt. Oder willst du auch dieses Jubiläum feiern?«
Henner seufzte. » Ich dachte, das sei eine Geste der Menschlichkeit, als Zeichen dafür, dass wir wissen, wie hart es für sie ist, dass wir jetzt noch mal in alten Wunden herumwühlen müssen.«
» Und da helfen Pralinen?« Heidi lachte bitter auf. » Wenn dem so wäre, würde ich den ganzen Tag Pralinen essen.«
Sie tauchten wieder aus der Unterführung auf. Nachdem sie am Gebäude der Grundschule vorbeigefahren waren, aus dem Winnie in einer Dreiviertelstunde herauskommen würde, wies Henner mit dem Zeigefinger nach rechts, die Straße hinauf, die zum Schloss führte. » Da müssen wir rein.«
Heidi blinkte. » Was heißt überhaupt ›ganz ohne Skandale‹?«
» Na ja, die anderen aus unserem Jahrgang haben immer reihum geknutscht. Zum Beispiel Birgits gesamte Clique, zu der übrigens auch Jens und Sarah gehörten. Jeder mit jedem. Besonders wild hat es Bella, die Mutter von Louis und der kleinen Isabel, getrieben. Die war nicht zu bremsen.«
» Und warum haben du und deine Frau da nicht mitgemischt?«
» Schätze, wir sind schon immer eher die monogamen Typen gewesen, die keine Lust auf Experimente hatten. Bella hingegen wirkte immer ein bisschen haltlos, wenn du weißt, was ich meine.«
» Sie hatte das gewisse Etwas?«
» Exakt.« Henner blickte verträumt aus der Windschutzscheibe. Heidi hätte gern gewusst, welche Bilder er da jetzt vor sich sah, wo er sich an seine Jugend erinnerte. Sie vergaß immer wieder, dass er schon sein ganzes Leben in St. Golden lebte und hier fast jeden kannte. » Von den Jungs war so ziemlich jeder hinter ihr her. Verglichen damit war Birgit noch die Besonnenste von allen. Hier ist es.«
Henner zeigte auf ein großes, alleinstehendes Haus, das am Schlossberg lag und von einem großen Garten umgeben war, der den Hang hinaufkroch. Am Zaun rankten
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