Der Atem der Angst (German Edition)
wollte, wie es Winnie ging. Er hatte es schon den ganzen Vormittag über versucht. Meine Güte! Winnie! Den hatte sie ganz vergessen! Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Der arme Kerl stand schon seit über einer halben Stunde vor der Schule und wartete auf sie in der Eiseskälte. Im Dunklen. Wenn er denn überhaupt noch dort stand! Heidi zog Henner am Arm. » Entschuldigen Sie, Sylvie. Wir müssen leider los. Wir melden uns, sobald wir neue Hinweise haben.«
Es war schrecklich, so schnell abzuhauen. Und doch war es schon viel zu spät. Gut, dass sie Henner dabei hatte. Mit einem Mal fühlte Heidi eine einzigartige Dankbarkeit in sich aufsteigen. Gut, dass er die Pralinen mitgebracht hatte. Gut, dass er die Leute umarmte. Zu so etwas war sie einfach nicht fähig. Sie vergaß ja sogar ihren eigenen Sohn.
30 . MAYA
Mit in die Stirn gezogener Kapuze hockte Maya zwischen zwei geparkten Autos. Nur ein paar Schritte vom Eingang der Zahnarztpraxis entfernt. Zum letzten Mal war sie als Siebenjährige an der Hand ihres Vaters durch diese Gasse gelaufen. Damals, als sie die Stadt verließen. Mit zwei Rucksäcken und Einkaufstüten beladen. Auf der Flucht vor den Widerwärtigen. Nun war sie wieder hier. Mitten unter ihnen. Immer noch ohne zu wissen, wer zu ihren Jägern gehörte und wem sie vertrauen konnte. Über ihr hing der schwarze Abendhimmel und das gelbliche Licht der Straßenlaternen legte sich wie eine warme Decke über die Autos und ihren Kopf. Als der letzte Patient die Praxistür aufzog und auf die Straße trat, schlüpfte Maya hinein und stand mit klopfendem Herzen im leeren Wartezimmer, an dessen Wänden noch immer die gerahmten Fotos von seltenen Schmetterlingen hingen.
» Kann ich Ihnen weiterhelfen? Wir schließen gerade.«
Maya fuhr herum und stotterte. » Ja, ich weiß.«
Hinter ihr, in der offenen Tür zum Behandlungszimmer, stand Dr. Bernhard im weißen Kittel. Er war alt geworden. Sein Haar schimmerte inzwischen weiß und seine Gesichtszüge waren weicher geworden. Doch seine Augen hatten noch immer das hellwache, strahlende Blau, an das sie sich so gut erinnerte. Sie lächelte unwillkürlich. Gleich war sie wieder das kleine Mädchen, das Angst vor dem Bohrer hatte. Damals hatte Dr. Bernhard sie an seine warme Hand genommen und ihr versprochen, dass sie keine Schmerzen haben würde. Und es hatte gestimmt. Am liebsten hätte Maya ihn umarmt und gesagt: » Bring mich nach Hause.« Doch er durfte sie nicht erkennen.
Dr. Bernhard verengte seine Augen zu schmalen Schlitzen und kam langsam auf sie zu. » Ist alles in Ordnung? Kennen wir uns?«
Sie schüttelte den Kopf, ohne etwas zu sagen. In ihrer Hand hielt sie verdeckt das Jagdmesser. Sie würde es ihm zeigen, wenn er nicht mitspielte.
Dr. Bernhard sah sie abwartend an, dann, als Maya sich nicht rührte, räusperte er sich etwas nervös. Ganz offenbar spürte er, dass hier etwas nicht stimmte. » Wenn ich nichts für Sie tun kann, würde ich Sie bitten zu gehen. Unsere Praxis ist wie gesagt geschlossen.«
Maya schluckte. » Ich brauche Hilfe. Mein Backenzahn ist schwer entzündet.«
Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie seit Ewigkeiten mit keinem Menschen mehr gesprochen hatte. Seit sehr langer Zeit. Zwar hatte sie regelmäßig auf Lukas eingeredet, aber natürlich hatte sie im Stillen immer gewusst, dass der nicht antworten konnte. Zu einem Menschen zu sprechen, war etwas ganz anderes. Auf seine Reaktion, seine Antwort zu warten, war schön– und unberechenbar.
Ihr alter Zahnarzt hob die Augenbrauen und verschwand hinter dem Empfangstresen. » Na gut. Dann bräuchte ich mal eben Ihre Versichertenkarte und Ihren Namen, um mir Ihre Patientendaten aufzurufen.«
Sie holte tief Luft. » Ich habe keine Versicherung und auch kein Geld. Sie müssen mich umsonst behandeln.«
» Bitte?«
» Bitte!« Maya zitterte. Ihre Hand klammerte sich am Griff des Jagdmessers fest, dessen Klinge im Ärmel der Kapuzenjacke von dem toten Mädchen steckte. Ihre Wange schmerzte. Sie wollte nur noch diesen zertrümmerten Zahn loswerden. Wenn Dr. Bernhard ihr nicht half, würde sie ihn zwingen.
Jetzt kam er wieder hinter dem Tresen hervor und versuchte, ihr ins Gesicht zu sehen. » Wer bist du? Wo sind deine Eltern?«
» Wozu wollen Sie das wissen?« Maya schüttelte sich die verfilzten Haare vor die Augen. » Ziehen Sie mir den verdammten Zahn und ich verschwinde wieder.«
» Ich darf dir nicht einfach einen Zahn ziehen. Ich brauche deine Adresse, um…«
Sie holte das
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