Der Atem der Angst (German Edition)
Zuerst kochte man die abgezupften Beeren, anschließend gab man sie in eine weiße Stoffwindel, die sich sofort tiefrot färbte. Mit beiden Händen drückte man dann das gefüllte Tuch langsam und gefühlvoll zu, bis unten aus dem Sack ein gleichmäßiger Saftstrahl herauslief. Wie frisches Blut. Den Beerenbrei, der wie ein Klumpen Eingeweide in der Stoffwindel zurückblieb, warf man weg. Man musste die Hände ordentlich schrubben, um die rote Farbe wieder loszuwerden.
Gegen halb neun war Heidi zum ersten Mal aus dem Haus gekommen, war in ihren Volvo gestiegen und zehn Minuten später mit einer Tüte Brötchen zurückgekommen. Kurz darauf war sie wieder davon gefahren.
Er beugte sich auf seinem Sitz vor. Gerade wurden drüben im oberen Stockwerk die einzigen Vorhänge zur Seite gezogen. Er sah ihn! Das musste der Vater des Jungen sein. Unbewegt stand er am Fenster und sah fragend zu ihm hinunter. Direkt in seine Augen. Oder nur auf sein Auto? Ganz langsam lehnte er sich in seinem Sitz zurück. Sein Herz raste. Er zwang sich, ruhig zu atmen. Der Vater konnte ihn nicht gesehen haben. Dafür spiegelte die Frontscheibe viel zu sehr.
Er musste etwas essen. Sonst machte sein Kreislauf schlapp. Wieso hatte er sich nichts gemacht, bevor er das Haus verlassen hatte? Dummes, altes Zirkuspferd! So aufgeregt war er seit seiner Kindheit nicht mehr gewesen. Wann war er denn zum letzten Mal so aufgeregt gewesen? Als die Katze ihnen Junge vor die Tür gelegt hatte?
An ihm fuhr ein Auto vorbei. Heidi in ihrem schäbigen Volvo. Was wollte sie denn schon wieder hier? Fühlte sie sich nun doch für ihren Sohn verantwortlich? Hatte der gestrige Abend es geschafft, ihr einen Schrecken einzujagen? Sie parkte direkt vor dem Haus und klingelte. Kurz darauf öffnete ihr Mann die Tür. Sie unterhielten sich kurz auf dem Fußabtreter. Dann kam Winnie im Schlafanzug und mit abstehenden Haaren von hinten unbemerkt dazu. Er sah seinen Eltern beim Streiten zu. Mit offenem Mund. Dann verschwand sein Vater für einen Augenblick und kam mit seiner Jacke zurück. Ohne sich zu verabschieden, lief er hinüber zu seinem Wagen, stieg ein und brauste davon.
Jetzt erst bemerkte Heidi ihren Sohn. Sie strich ihm über den Kopf, kniete sich vor ihn hin und redete kurz mit ihm. Dann schickte sie ihn ins Haus zurück, zog die Tür von außen zu, lief zu ihrem Wagen und fuhr ebenfalls eilig davon.
Jetzt war Winnie wieder allein. Ganz allein.
Er holte tief Luft, kontrollierte sein Aussehen im Rückspiegel, strich sich das graumelierte Haar zurecht. Dann öffnete er die Fahrertür, stieg aus und ging auf das Haus zu, in dem der kleine Junge auf die Rückkehr seiner Mutter wartete. Bestimmt hatte er auch noch nicht gefrühstückt.
43 . MAYA
In ihrem Bauch tanzten Schmetterlinge, als sie im Höhleneingang den schwammigen Pilz, den sie im Morgengrauen am Fuß einer Kiefer gefunden hatte, in gleichgroße Stücke zerteilte. Den Pilz wollte sie über dem Feuer braten, sobald Louis zurück war. Er würde zurückkehren, da war sich Maya sicher.
Oder?
Sie blickte in den spätherbstlichen Wald hinein. Die hohen, schlanken Stämme der Kiefern bewegten sich rauschend im Wind, ihre Gipfel schwenkten wie riesige, schwarze Zipfelmützen gegeneinander. Der Wind nahm zu und mit ihm das dunkle Wiegen der Kiefern. Darüber war der Himmel schneeweiß. Maya fröstelte. Was, wenn Louis nicht wiederkam? Was, wenn er sie hier oben alleine ließ?
Nachdenklich und irgendwie verwirrt hatte er sich auf den Weg runter nach St. Golden gemacht. Um ein paar Sachen zu regeln. Was denn für Sachen? Aber dann würde er zurückkommen, hatte er versprochen. Mit neuen Informationen. Wie lange konnte das dauern? Konnte Maya ihm überhaupt vertrauen? Warum sollte ein Stadtjunge zurück in die Wälder kommen? Er hatte ein warmes Zuhause. Er konnte einfach zur Polizei gehen, in dem Glauben, dass die dem Horror ein Ende bereiten würde!
Bis vor ein paar Wochen hatte Maya auch noch gehofft, dass ihre Heimatstadt nicht mehr gefährlich für sie war. Diese Hoffnung hatte sie durch all die Wälder bis hierher zurückgetrieben. Nur, um festzustellen, dass es in St. Golden noch immer lebensgefährlich für sie war. Gefährlicher denn je. Das bedeutete, dass die Polizei komplett unfähig war oder mit drinsteckte. Und es bedeutete, dass es diese Heimat endgültig nicht mehr für sie gab.
In zwei Monaten begann der Winter. Es konnte sehr kalt werden im Wald. Sie durfte nicht auf Louis warten. Sie durfte
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