Der Atem der Angst (German Edition)
Doch etwas zwang sie, noch einmal hinzusehen.
Es war eine bräunlich schwarze Hand, die an einem Arm steif aus der lehmigen Erde herausstand.
Es brauchte einige Augenblicke, bis Maya verstand, dass das, was sie da sah, keine Einbildung war. Dort, direkt vor ihr, lag ein Mensch unter der Erde. Ihre Augen brannten. Sie hörte sich selbst vor Aufregung schnaufen. Bleib ganz ruhig, beschwor sie sich. Bleib ruhig. Stück für Stück krabbelte sie näher an den Abhang heran. Die Haut der Hand war faltig wie die einer Mumie und hatte die braune Färbung des Bodens angenommen. Die Leiche musste mindestens ein paar Jahre hier liegen. Das Handgelenk war schmal wie das eines Mädchens, die zarte Hand wies keinerlei Verletzungen auf. Alle Finger waren deutlich zu erkennen. Wer war dieses Mädchen? Wurde eines unten in St. Golden vermisst? War auch sie Opfer der Widerwärtigen? Oder hatte sie mit all dem nichts zu tun?
Vielleicht würde Maya darüber etwas erfahren, wenn sie das Mädchen mit den bloßen Händen freischaufelte. Ob ihr halb verwester Körper ihr etwas über ihren Tod verriet? Der sauerstoffarme Boden schien das Mädchen zumindest teilweise konserviert zu haben. Aber was sollte Maya mit diesen Erkenntnissen anfangen? Überhaupt würde sie es nicht alleine fertigbringen, das Mädchen aus seinem Grab zu bergen. Vielleicht hätte Maya es alleine fertiggebracht, bevor sie Louis begegnet war, doch längst hatte sich etwas in ihr verändert. Die Fähigkeit, sich kalt zu machen, nichts mehr zu fühlen, war verschwunden. Sie hatte sich jemandem anvertraut. Jemand, dessen Leben von den Widerwärtigen genauso zerstört worden war wie ihres. Dieses Mädchen tat ihr leid. Maya schniefte. Es war, als läge sie selbst dort. Allein. Verlassen. Und doch irgendwie unbeugsam. Einem plötzlichen Impuls folgend, kniete sich Maya in die feuchte Erde und faltete ihre Hände. Leise flüsternd bat sie den Himmel, dieses Mädchen nach Hause zu holen.
Langsam zog sich Maya durch die hohen Gräser zurück. Was, wenn das Mädchen etwas mit dem Geheimnis zu tun hatte, für das schon so viele Menschen hatten leiden müssen? Maya konnte nicht so tun, als hätte sie es nicht entdeckt. Dieses Mal konnte sie nicht einfach weglaufen. Sie musste Louis von ihrem Fund erzählen. Er musste zurückkehren! Dann würden sie gemeinsam überlegen, was zu tun war. Zusammen hatten sie eine Chance, die Macht der Widerwärtigen zu brechen. Alles, was er dafür tun musste, war Wort zu halten und zu ihr in die Wälder zurückzukehren.
44 . HEIDI
Heidi lenkte ihren schweren Volvo-Kombi die von der Herbstsonne beschienenen Serpentinen in Richtung Wasserfall hinauf. Es war kaum auszuhalten, wie schön das klare Licht durch die Kiefern bis in ihr Herz brach und dort kräftig für Aufruhr sorgte. Damit sie sich voll auf ihre Aufgabe als Ermittlerin konzentrieren konnte, tat sie alles, um nicht über den albernen Streit mit Eric nachzudenken. Eric hatte Winnie gleich mitnehmen wollen und ehrlicherweise wäre das auch vernünftig gewesen. Zumindest solange sie hier ermittelte. Aber ihr dummer Stolz hatte mal wieder gesiegt. Sie schaffte es einfach nicht zuzugeben, dass ihr gerade alles über den Kopf wuchs.
Nun war Winnie wieder allein zu Hause. Und Michelle war tot.
Heidi bog auf einen schmalen Forstweg ab, an dessen Ende Henner und dieser Robert mit seinem bleichgesichtigen Kameramann standen. » Der weiß ja früher über die Tatorte Bescheid als die Polizei«, murmelte Heidi und holperte über den aufgeweichten Waldboden. Sie parkte, zog die Handbremse an und stieg aus.
Ohne Henner zu begrüßen, starrte sie Robert ärgerlich an. » Was wollen Sie denn schon wieder hier?«
» Schätze, das Gleiche wie du. Rausfinden, was los ist.«
Heidi seufzte. » Sie bleiben hier unten. Das ist ein Tatort und kein Fernsehstudio. Haben Sie mich verstanden?«
Robert lächelte tiefgefroren. » Denke schon.«
» Gut. Wer hat das Mädchen entdeckt?«
Henner ging neben Heidi und bog herunterhängende Äste beiseite. » Eine junge Kollegin vom Einsatzteam aus dem Nachbarort. War ihre erste Woche bei der Polizei. Vielleicht redest du nachher mal mit ihr. Sie scheint ziemlich durch den Wind zu sein. Heult die ganze Zeit. Einer von den Sanitätern hat ihr schon was zur Beruhigung gegeben.«
Heidi nickte und folgte Henner den immer schmaler werdenden Forstweg hinunter, der schließlich in einer Art Trampelpfad mündete, der durch ein Feld von niedergetretenem Farn führte. »
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