Der Atem der Angst (German Edition)
er? Sie konnte sich beim besten Willen nicht erinnern. Hatte er sich aufgemacht, Michelle zu suchen? Hatte er sie gefunden? War er jetzt bei ihr? Würde er je wieder zurückkehren? Hätte sie ihn überhaupt gehen lassen dürfen? Lag es nicht in ihrer Verantwortung als Mutter, ihn vor allem Unglück dieser Welt zu beschützen? Sollte sie Sarah und Jens anrufen, ob er Michelle gefunden hatte? Nein. Sie würde mit dem Sorgenmachen bis zum Mittagessen warten. Diesen plötzlichen, inneren Frieden wollte sie nicht wieder verlieren. Ihr Sohn würde früher oder später schon wieder auftauchen. Er war unzerstörbar. Kräftig. Mutig. Und entschlossen. So wie es ihr Mann gewesen war. Nur im Gegensatz zu ihm würde Louis nie etwas passieren. Er war ein Glückskind. Sie lächelte.
Im Wohnzimmer schob sie die gerahmten Bilder ihrer beiden Kinder auf der Kommode zusammen, sodass sie Isabel und Louis gut im Blick hatte. Andächtig betrachtete sie die Fotografien. » Meine Süßen.« Dann schob sie noch ein Foto dazu. Das ihres verstorbenen Mannes. Und zum Schluss ein Bild von sich. Ihre Familie. Ihre geliebte Familie. Isabel, Lou, Mike und Bella. Eine schöne Familie.
Bevor sie sich zum Gehen wandte, schob sie den Bilderrahmen mit Louis’ Bild wieder ein Stück von den anderen gerahmten Bildern weg. Wie sehr sie ihn liebte. Das hatte Bella ihm in den letzten Jahren nicht allzu oft gezeigt. Sie war bedürftig gewesen. Sie hatte sich hängen lassen. Sie hatte ihm seine Liebe zu Michelle nicht gegönnt, aus Angst, ihn zu verlieren. Aus Angst, alleine zu sein. Damit war jetzt Schluss. Er sollte sich nicht mehr um sie kümmern müssen. Heute war ein feierlicher Tag. Heute würde er eine wichtige Lektion in seinem Leben lernen. Manche Menschen lernten diese Lektion erst als Erwachsene. Dass Beziehungen nicht für immer waren. Menschen trafen sich, liebten sich und gingen wieder auseinander. Jeder, dem so eine schmerzhafte Trennung zum ersten Mal im Leben widerfuhr, blickte geschockt auf sein Leben. Vollkommen fassungslos darüber, dass geliebte Menschen einfach so verschwinden konnten, ohne wiederzukehren. Doch je öfter man solche Trennungen durchlebt hatte, desto leichter fiel es einem, diese Tatsache zu akzeptieren und am Ende selbst in Frieden zu gehen.
41 . LOUIS
Es war kein Traum. Er hatte in einer Höhle übernachtet. So wie er sich das als kleiner Junge in seinen Abenteuerfantas ie n ausgemalt hatte. Er blinzelte. Seine Wange lag auf einem borstigen Wildschweinfell. Durch den schmalen Höhleneingang drang Morgensonne. Was war passiert? Louis sah auf seine verschmutzte Hand, die den karierten Zettel umklammerte, der inzwischen die Form eines zerknitterten Würstchens angenommen hatte. Michelles Abschiedsbrief.
Tief in Louis regte sich ein gewaltiger Schmerz. In seinem Kopf flackerte immer wieder das Bild seiner Freundin auf, wie sie ihn anlächelte. Sie flüsterte ihm etwas zu. Voller Zärtlichkeit. » Für immer! Louis! Für immer!« Er würde niemals darüber hinwegkommen. Was hatte er ohne sie auf dieser beschissenen Welt verloren? Louis lauschte. Da war nichts als sein trauriger Atem, sein Schniefen und Schluchzen, das immer mehr anschwoll, bis die Trauer seinen ganzen Körper wie mit kräftiger Hand schüttelte.
Als Louis sich vollkommen leer geweint hatte, atmete er noch einmal tief ein und aus. Warum hatte Michelle sich das angetan? Hatte sie wirklich geglaubt, Leonie würde zurückkommen, wenn sie sich opferte? Ihr Brief klang so. Aber wer hatte ihr das gesagt? Wer hatte sie dazu gezwungen? War es derselbe, der Leonie im Wald vergraben hatte? Louis beschloss, sich ab jetzt vollkommen kalt zu machen. Kein Gefühl durfte ihn stören. Er musste herausfinden, was passiert war. Und dafür brauchte er das Mädchen. Louis wandte sich um. Das Lager neben ihm war leer. Hatte Maya ihn allein zurückgelassen? Oder hatte er sie gestern Nacht allein im Wald zurück gelassen? Wie war er hierhergekommen? Er konnte sich nicht erinnern. Nur noch, dass er auf sie losgegangen war und sie rücklings auf einen hervorstehenden Ast…
War sie… Hatte er sie blindwütig getötet?
Louis setzte sich mit klopfendem Herzen kerzengerade auf. Zwei schwarze Knopfaugen starrten ihn an. » Ach du Scheiße!«, entfuhr es ihm. » Was ist das denn?«
Unwillkürlich rutschte er rückwärts an die Höhlenwand. Nachdem sich seine Augen einigermaßen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannte er, dass es inzwischen sogar ein stinknormaler Teddy
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