Der Atem der Angst (German Edition)
Hier wurde ja ganze Arbeit geleistet. Warum sind die Suchtrupps nicht gleich mit der Sense durchgerannt und haben alles abgemäht? Hier noch brauchbare Spuren zu finden, würde an ein Wunder grenzen.«
Anstatt zu antworten, trat Henner beiseite und gab den Blick auf Michelle frei, die nur in Schlüpfer, T-Shirt und rosa Mädchensöckchen am Ast eines einzelnen Baums inmitten einer Lichtung hing. Darunter lag ein umgekippter Getränkekasten.
» Oh, bitte nicht!«, flüsterte Heidi, als hätte sie gehofft, dass alles nur ein böser Traum war und sie Michelle ihren Eltern unversehrt zurückbringen würde.
Den Blick auf das hängende Mädchen gerichtet, schob sie sich an Henner vorbei, auf die weißgekleideten Kollegen von der Spurensicherung zu. Wieder steckten im Waldboden gelbe, nummerierte Fähnchen. Rund um die grasbewachsene Lichtung war Flatterband gespannt. Sie hörte ihren Kollegen hinter sich schnaufen, so als müsse er sich gleich übergeben. Heidi holte tief Luft und ging vorsichtig voran, um nicht die letzten möglichen Spuren zu zerstören.
Sie nickte kurz in die Runde. » Was haben wir bisher?«
Die Sonne reflektierte auf den nackten Beinen des Mädchens. Einer aus dem Team kam näher heran. Er nahm seine weiße Kapuze ab und legte sein lockiges rotblondes Haar frei. » Ich bin Marc. Ihrem Zustand nach muss der Tod etwa gegen zwei Uhr vorvergangener Nacht eingetreten sein.«
Heidi rechnete kurz nach. » Das heißt, sie war noch am Leben, als ihre kleine Schwester gefunden wurde. Was bedeutet: Sie wusste nicht, dass Leonie noch am Leben war. Ist schon klar, ob es Selbstmord war?«
Marc zuckte mit den Schultern. » Schwer zu sagen. Auf den ersten Blick sieht es zumindest so aus. Sie scheint auf der Getränkekiste gestanden und sie selbst umgestoßen zu haben. Außerdem hat sie vorher ihre Haare aus der Schlinge genommen, was bedeutet…«
Heidi hob die Hand. » Danke, ich weiß schon. Das tun Selbstmörder immer.«
Der Kollege von der Spurensicherung nickte. » Seltsamerweise sind hier aber überall Fußspuren von einer zweiten, beziehungsweise einer dritten Person.«
Heidi ließ ihren Blick über den weichen Waldboden schweifen. Tatsächlich waren überall Abdrücke von unterschiedlich großen Schuhen zu erkennen. Einer der weißen Männer fotografierte sie aus unterschiedlichen Perspektiven. Was um Himmels willen war hier los gewesen? Hatte sich das arme Mädchen im Beisein ihres Peinigers das Leben genommen? Oder besser gesagt: ihrer Peiniger? War sie mit Gewalt dazu gebracht worden? Oder war ihr nur dabei zugesehen worden? Still und geduldig? Es war kaum auszuhalten, wie krank das hier war!
Heidi und Henner blieben wenige Schritte von Michelle entfernt stehen. Heidi spürte ihr Herz wummern. Nur zwei Tage zuvor hatte sie diesem Mädchen im rosafarbenen Frotteebademantel am Wohnzimmertisch gegenübergesessen und gespürt, dass etwas nicht mit ihr stimmte. Heidi konnte sich grundsätzlich auf ihr Gespür verlassen, warum also hatte sie das Mädchen gehen lassen? Wenn Heidi sie härter angepackt hätte, wäre das Mädchen vermutlich zusammengebrochen und hätte alles erzählt. Heidi hätte ihr das Leben retten können. Diese Erkenntnis nahm ihr beinahe den Atem. Mühsam presste sie hervor: » Weist sie irgendwelche Verletzungen auf?«
Marc schüttelte den Kopf. » Nichts. Nur ihre Handflächen sind leicht aufgeschürft und Moospartikel kleben daran. Und auf der linken Wange hat sie einen Kratzer.«
Heidi nickte, bemüht, einfach nur die Fakten abzuarbeiten. Das Entsetzen über ihr Versäumnis würde sie noch früh genug aus den Schuhen hauen. Spätestens nachdem sie den Eltern die grausige Botschaft überbracht hatte. Bis dahin musste sie durchhalten. Es ging hier nicht um sie. Sondern ausschließlich darum, all die Puzzleteilchen zu einem stimmigen Bild zusammenzusetzen. Und zwar möglichst schnell. » Und was ist mit ihrer fehlenden Kleidung? Sie ist ja bestimmt nicht ohne Hose hier raufgekommen?«
» Die Hose und die Schuhe haben wir bisher nicht gefunden«, referierte Marc, während Henner in seinen Notizblock kritzelte. » Die Einschnitte vom Seil an ihrem Hals sind ziemlich tief, deshalb gehen wir momentan davon aus, dass ihr die Hose und die Schuhe erst ausgezogen wurden, nachdem sie im Seil hing.«
» Wer macht denn so etwas Krankes?« Henner sah sich um, als hätte er Hoffnung, die fehlenden Kleidungsstücke irgendwo hinter einem Busch zu entdecken.
» Interessante Frage.« Marc
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