Der Atem der Angst (German Edition)
sich nicht von einem Stadtjungen abhängig machen, der gerade seine Freundin verloren hatte. Sie musste sich um sich selbst kümmern. Sie musste vorsorgen. Vorräte sammeln. Hatte sie genügend Felle? Ihr Vater hatte es ihr eingebläut: » Wenn du überleben willst, dann darfst du an nichts anderes denken. Lass dich von nichts ablenken.« Das hatte er gesagt und war in einem unachtsamen Moment abgestürzt.
Maya erhob sich. Das Rauschen der Kiefern nahm zu. Das war das eindeutige Signal, besser nicht die Zeit mit Vorfreude auf ein nie stattfindendes Pilzessen zu vergeuden. Sie hatte schon genug Zeit darauf verschwendet, die Höhle herauszuputzen wie eine alberne Hausfrau. Sie hatte eine Dummheit begangen, die sie jetzt sofort wieder bereinigen musste. Maya hatte ihr Herz geöffnet. Louis würde bestimmt nicht wiederkommen. Wozu auch? Das Brauchbare, was er womöglich über die Clique herausfand, würde er direkt zur Polizei tragen. Hier oben hatte er nur Michelle verloren– nichts anderes.
Drinnen in der Höhle versteckte sie Lukas unter den Fellen und versprach: » Ich bin bald zurück, Kumpel.« Dann steckte sie ihr Messer in den Gürtel und schulterte den Bogen. Sie ging jetzt auf die Jagd.
Maya stieg schnell bergauf. Unterhalb des Wasserfalls durchquerte sie den Bach. Sie wollte die Lichtung so weit wie möglich umrunden, auf der Michelle noch immer hing. Wer nur hatte das Mädchen dazu gebracht, in den Tod zu gehen? Maya würde es nie erfahren. Es brachte nichts, sich mit all den offenen Fragen zu quälen. Sie musste all das gehen lassen und sich auf ihr eigenes Überleben konzentrieren. Sie hielt den Blick auf den Boden gerichtet, endlich wieder voll darauf fokussiert, eine Fährte aufzunehmen.
Zwischen dem Unterholz führte ein Wildwechsel den Hang hinauf, ein schmale Schneise, die sich bildete, wenn regelmäßig Tiere denselben Weg entlangliefen. Maya folgte dem Pfad und entdeckte schließlich an einem rauen Kiefernstamm ein rotbraunes Haarbüschel. Offenbar hatte sich ein Rehbock daran gekratzt. Maya legte den Kopf in den Nacken. Dort, wo er sein Geweih am Stamm geschabt hatte, war die Rinde abgeplatzt. Maya ging in die Hocke, um sich die Umrisse des Hufabdruckes anzusehen und damit das Alter der Spur genauer zu bestimmen. Der zweigeteilte Abdruck, der aussah wie ein in den Boden geprägtes Herz, war noch deutlich im Matsch zu erkennen.
Maya hob ihren Blick.
Um sie herum verdichtete sich das Unterholz, sodass es nicht leicht war, den nächsten Abdruck zu finden. Doch Maya kannte die Gangart der Rehe. Ruhig ließ sie ihren Blick über die Walderde schweifen. Da! Sie hatte den nächsten Tritt gefunden. Der darauffolgende war schon schwieriger zu entdecken, da der Bock auf Steinchen getreten war.
Maya folgte dem Tier bis zu dem Plateau hinauf, auf dem sich ein kleiner Bergsee ausbreitete, hinter dem auf drei Seiten der Wald wieder steil anstieg. Das stehende Gewässer glitzerte in der Sonne, die sich im Laufe des Vormittags durch die Wolkendecke gebohrt hatte. Der Wind hatte nachgelassen, und die Luft war angenehm warm, sodass Maya ihren Fellumhang abnahm. Hier oben folgte sie der Spur nun mühelos, da sich der Rehbock achtlos über den schlammigen Untergrund bewegt hatte. Maya vermutete, dass sich das Tier ganz in ihrer Nähe befand.
Vorsichtig bewegte sie sich am Ufer entlang. Im Schutz der hohen Gräser, die über den Sommer ausgedörrt waren und nun gelb und modrig dastanden, gelangte sie auf die andere Seite des Plateaus. Dort hievte sie sich einen mannshohen Abhang hinauf, sodass sie an der erhöhten Waldkante entlanglaufen und das gesamte Plateau und das Gewässer überblicken konnte.
An einer Stelle war durch die starken Regengüsse der Untergrund so aufgeweicht, dass unter Mayas Tritt plötzlich ein Stück des Abhangs wegbrach und sie mit den Erdbrocken ein paar Meter in die Tiefe rutschte. Unten angekommen rappelte sie sich verärgert wieder auf. Nicht weit von ihr entfernt, hörte sie es in den Gräsern rascheln. Gleich darauf sah sie das hüpfende Hinterteil des fliehenden Rehs im hohen Gras verschwinden. » So ein Mist!«, wisperte sie.
Als Maya ihren heruntergefallenen Bogen schulterte, glitt ihr Blick über etwas, das aus dem Erdreich hervorstand und durch den Abbruch freigelegt worden war. Obwohl sie sofort erkannte, dass es sich nicht um eine Wurzel handelte, wehrte sie sich mit aller Macht dagegen, anzuerkennen, was es war. Am liebsten wäre sie einfach zurück zur Höhle gerannt.
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