Der Atem der Angst (German Edition)
wies auf die Fußspuren. » Vermutlich ein Mann. Was dennoch merkwürdig ist, weil er ein gutes Stück von ihr entfernt stehen geblieben ist. Mit ausgestrecktem Arm hätte er sie zwar berühren, aber nicht ausziehen können. Ihre Fußspuren, vorausgesetzt, es handelt sich um ihre eigenen, sind überall wild verteilt. Bis dahinten zur Baumgrenze. Dort scheint sie mit dem Mann in einen Kampf geraten zu sein. Überall ist der Farn niedergedrückt.«
Heidi folgte den Fußspuren, bis sie neben einem dicken Ast stehen blieb. » Den da bitte im Labor auf Fingerabdrücke untersuchen.«
Marc wies einen Kollegen an, den Ast zu nummerieren und aufzuheben. Dann zeigte er auf den Stamm des Baumes, an dem Michelle hing. » Irgendwas Schweres wurde mit Klebeband am Stamm fixiert. Das Teil ist allerdings verschwunden. Dafür steckt da drüben in der Astgabel ein Handy. Wie es aussieht, wurde ihr Tod damit gefilmt oder übertragen. Der Geräteakku ist leer, weswegen wir Genaueres erst im Labor herausfinden können.«
Bevor Heidi darauf etwas erwidern konnte, hörte sie Roberts Stimme durch den Wald hallen. » Hallo! Ist da noch jemand? Wir stehen uns hier die Beine in den Bauch, dürfen wir kommen? Oder kriegen wir zumindest mal ein Heißgetränk angeboten?«
Heidi und Henner wechselten stumm Blicke, dann seufzte Heidi und machte sich zurück zu ihrem Wagen. » Ich werde den Eltern Bescheid geben.« Nach ein paar Metern drehte sie sich noch einmal um. » Können Sie herausfinden, ob die Fußspuren alle gleich alt sind?«
Marc sah Heidi in einer Mischung aus Bewunderung und Neugier an. » Ich denke schon. Wir nehmen Gipsabdrücke.«
» Und messen Sie den Abstand zwischen Waldboden und fixiertem Handy.«
» Wird gemacht.«
Heidi hob die Hand. » Danke.« Dann lief sie den schmalen Pfad zwischen den niedergetrampelten Farnen hinunter, bis sie vor ihrem Volvo stand, an dessen Kühlerhaube Robert lehnte und sich in die kalten Hände blies, wobei eine kle ine A temwolke aufstieg. Dabei sah er sie herausforderndan.
Heidis Blick wurde gleich wieder frostig. Für wen hielt der sich eigentlich? Hatte der zu viele schlechte Fernsehkrimis gesehen? » Ein Kollege kommt runter und sagt Ihnen, was Sie wissen müssen. Der Bericht kommt aber erst in den Abendnachrichten, ist das klar?!«
Robert rutschte von der Kühlerhaube und winkte seinem Assistenten, der gerade an einen Kiefernstamm pinkelte. » Danke, Schönheit. Darf ich mich bei dir mit einem Bier nach Feierabend revanchieren?«
Heidi zog die Fahrertür auf und setzte sich hinter das Steuer. » Nur über meine Leiche.«
Dann knallte sie die Tür zu, und für einen Moment war sie geblendet, von der Sonne, die gleißend zwischen den schwarzen Kiefern im Tal versickerte. Das arme Mädchen. Was musste sie für Ängste ausgestanden haben? Heidis Hände und Knie zitterten, dann fing sie an zu weinen, während sie Robert und seinen Kameramann hinter dem Auto miteinander herumstehen sah. Sie wusste nicht, was hier im Wald vor sich ging. Und sie versuchte, sich zu erinnern. An damals, als sie sich als Kind verlaufen hatte. Von jenem Tag fehlte ihr ein Stück Erinnerung. Zwischen dem Moment, in dem sie ihre Eltern aus dem Blick verloren hatte, und dem Augenblick des Wiederfindens. Dazwischen blieb alles dunkel. Sie sah sich noch oben auf dem Plateau umherirren. Schließlich hatte sie sich entkräftet und durstig auf den morastigen Boden neben das stehende Gewässer gelegt. Sie hörte die Stechmücken in der gleißenden Sonne sirren, die Frösche quaken, fühlte den nassen Boden an ihrer kleinen Hand, als sie versuchte, in der Mittagshitze bis zum Ufer zu gelangen, ohne sich nass zu machen. Als Kind konnte man sich so unglaublich einsam fühlen. Als erwachsene Frau ebenso. Wann hörte das auf? Wann war man endlich zu Hause und in Sicherheit?
45 . LOUIS
Louis schloss die Haustür auf und trat in den Flur. Etwas war anders als sonst. Nur wusste er nicht sofort, was es war. Er drückte die Tür hinter sich ins Schloss und blieb für einen Moment reglos stehen. Im Flur war es wie immer dunkel, nur aus der offenen Küchentür drang Tageslicht. Er lauschte. Es war totenstill. Das war es! Der Fernseher lief nicht.
» Mama?« Louis ging mit klopfendem Herzen bis zur Wohnzimmertür. In den letzten Jahren war der Fernseher nie ausgeschaltet gewesen. Nicht mal, wenn seine Mutter frühmorgens zu den Nachbarinnen zum Haareschneiden gegangen war. Um ja nicht das Gefühl von Einsamkeit aufkommen zu
Weitere Kostenlose Bücher