Der Atem der Angst (German Edition)
lassen.
Es kam keine Antwort.
Louis hatte Angst vor dem, was er vorfinden würde, wenn er jetzt um den Türrahmen sah. Aber noch bevor er sich dieser Angst bewusst war, bevor er begriff, dass ihm sein Verstand Warnsignale sendete und ihn beschwor, nicht um die Ecke zu sehen, machte er noch die zwei entscheidenden Schritte in die offene Tür hinein und blickte mutig hinüber zum Sofa, das vor dem ausgeschalteten Fernseher stand. Seine Mutter saß nicht dort. Es standen auch keine halb leer getrunkenen Bierflaschen auf dem Couchtisch.
» Mama?« Louis machte ein paar Schritte ins Zimmer und sah sich um. Die hellgrüne Wolldecke, mit der sie sich normalerweise zudeckte, hing ordentlich zusammengelegt über der Sofalehne. Die Stühle waren akkurat an den Esstisch herangerückt. Darauf stand eine Vase mit frischen Astern. Solange er sich erinnern konnte, hatte es das noch nie gegeben. Seit seine Schwester tot war, hatte seine Mutter keine Blumen mehr gekauft, und er hatte Bella auch keine geschenkt, nicht mal zum Muttertag oder an ihrem Geburtstag. Er fand, das wäre Sache seines Vaters gewesen. Und die Rolle des F amili enoberhauptes wollte er nicht einnehmen. Auch wenn seine Mutter sich das wünschte.
Wieder kam keine Antwort. Gerade als Louis zurück in den Flur wollte, fiel sein Blick auf die gerahmten Fotos auf der Anrichte. Sie waren umgestellt worden. Bella, sein Vater und Isabel standen dicht beieinander, nur sein Bild war ein Stück weggerückt worden. Er trat näher heran. Auf der Anrichte war Staub gewischt worden. Das lackierte Holz glänzte. Seine junge, hübsche Mutter lächelte auf dem Bild. Er nahm es hoch. Er war voller Widerwillen, aber auch voller Sehnsucht nach der Mutter, die er einmal gehabt hatte. Hatte sie hier überall aufgeräumt? Wenn ja, warum? War seine Mutter wieder zurück? Hatte sie sich wieder gefangen? Hatte er Michelle verloren und seine Mutter zurückgewonnen? Würde er sich an sie schmiegen können, so wie früher, um sich von ihr trösten zu lassen?
Louis stellte das Bild wieder zu den anderen und ging zurück in den Flur. » Mama?« Erneut sagte ihm sein Instinkt, dass in diesem Haus etwas Unfassbares passiert war. Er musste nur weiter suchen, um es zu finden. » Such!«, sagte sein Instinkt jetzt. » Such, Louis! Such!«
Langsam stieg er die Treppe hinauf ins obere Stockwerk. Er hielt den Atem an, um besser hören zu können. Da war nichts. Hier war niemand außer ihm. Und doch hörte er seinen Instinkt wieder flüstern: » Such, du Dummkopf! Such! Du wirst es gleich finden.«
Louis umklammerte das Treppengeländer.
» Such! Gleich hast du es, Dummkopf!«
Er biss die Zähne zusammen, zog die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, als bereite er sich auf einen Kampf vor, als müsse er gleich raus in die Arena, um sein Leben gegen einen übermächtigen Angreifer zu verteidigen. Er spürte, wie seine Halsschlagader pulsierte, wie sie anschwoll und er unter den Armen zu schwitzen anfing. Mehr und mehr spürte er eine seltsame, undefinierbare Bedrohung.
» Such! Dummkopf. Du hast es gleich. Gleich hast du es. Du musst nur wagen, die Badezimmertür zu öffnen. Traust du dich?«
Louis ging über den ausgetretenen, hellblauen Teppich, hinüber zur Badezimmertür. Gerade als er die Klinke herunterdrücken wollte, wisperte die Stimme in seinem Kopf: » Ha! Reingelegt! Es ist nicht das Badezimmer. Es ist ihr Schlafzimmer. Fang aber bloß nicht an zu heulen, wie ein kleiner Junge. Sieh es dir einfach nur an.«
Louis ließ die Klinke los und ging hinüber zur verschlossenen Schlafzimmertür seiner Mutter. Hier oben im Flur war es beinahe dunkel. Nur etwas Licht kam von unten aus der Küche und aus seinem Zimmer, dessen Tür einen Spalt geöffnet war. Er lauschte. Da war nichts. Er lauschte noch einmal. Nichts. Nur seine innere Stimme, die ekelhaft lachte und es scheinbar kaum noch aushielt, dass Louis endlich am Ziel war.
» Worauf lauschst du? Hier ist niemand außer dir. Das sagte ich dir doch schon. Du bist der Einzige, dessen Herz schlägt. Los! Geh rein, überzeug dich!«
Louis drückte die Klinke herunter.
» Warm! Wärmer! Heiß!«, kreischte die Stimme.
Louis stieß die Tür auf. Er trat ins abgedunkelte Zimmer. Es roch ganz zart nach dem Parfüm seiner Mutter. Louis versuchte, etwas zu erkennen. Er sah ihr frisch gemachtes Bett. Die Kissen lagen ordentlich drapiert auf der Überdecke. » Mama?« Louis zögerte. Sollte er den Vorhang zur Seite ziehen, um Licht
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