Der Atem der Angst (German Edition)
Grundschule vorbeifuhren, vor deren Eingang Kinder nach Unterrichtsschluss von ihren Eltern in Empfang genommen wurden. » Keine Ahnung. Guck mal, die Streber waren heute in der Schule.«
Sie fuhren durch die Unterführung, raus aus St. Golden, an der Außenkante des Bergs entlang. Heute war ein herrlicher Tag. Warm, mit strahlend blauem Himmel. Nach zehn Minuten Fahrt auf der Landstraße hielten sie vor einem allein stehenden Haus, das von einem hohen Holzzaun umgeben war. Per Fernbedienung öffnete er das Tor und fuhr auf das weiträumige Gelände, auf dessen Wiese ein paar Apfelbäume standen. Neben dem Haus mit dem Spitzdach hielt er an. » Alle aussteigen! Da sind wir wieder.«
Winnie stieß die Wagentür auf. » Ist es eigentlich nicht ein bisschen blöd für dich, so alleine zu wohnen?«
Er wiegte den Kopf. » Ich habe ja meine Kaninchen.«
» Aber warum hast du keine Frau?«, fragte Winnie, wobei er in die Sonne blinzelte.
» Ich weiß es nicht. Irgendwie habe ich nie eine gefunden.« Er schloss die Haustür auf, die in einen kühlen, schwarz-weiß gefliesten Vorraum führte, von dem eine Tür in den Wohnbereich ging und eine in den Keller. » Ich würde sagen, wir gehen gleich runter zu den Kaninchen. Was meinst du?«
» Okay.« Winnies Stimme klang etwas dünn. So als habe ihn der Mut verlassen. Unruhig ließ das Kind seinen Blick durch den leeren Vorraum schweifen, in dem nichts stand außer einem Schirmständer und einem Paar dunkelgrüner Gummistiefel.
Er drehte den Schlüssel im Schloss herum, stieß die knarrende Kellertür auf und tastete die Wand nach dem Lichtschalter ab. » Die Scharniere muss ich auch mal wieder ölen.«
Das Licht ging an, und nacheinander stiegen sie die modrige Betontreppe hinunter in den Keller, der von einer Glühbirne erhellt wurde. An der Wand lehnten alte Skier und ein rotes, umgedrehtes Kajak lag auf dem Boden. » Stolpere bloß nicht!«
Winnie griff nach seiner Hand, die wieder in dem ledernen Handschuh steckte. » Wieso trägst du immer Handschuhe?«
» Das sage ich dir schon noch. Komm erst mal weiter.«
Er zog den kleinen Jungen hinter sich her in den warmen Heizungskeller, in dem eine große, selbst gezimmerte Kiste stand. Winnie ließ seine Hand los. » Was ist das?«
Bevor er antworten konnte, glitt Winnies erstaunter Blick über die Kellerwand, an der das Foto pinnte. Die darauf abgebildete Person erkannte er sofort. » Warum hast du ein Foto von meiner Mutter an die Wand gehängt?«
Winnie starrte ihn mit seinen riesigen Augen an. Plötzlich schien der Junge Angst zu haben.
Winnie lächelte hilflos, unter keinen Umständen wollte er seine Angst zeigen.
Mit einem Mal verstand er die gesamte Situation nicht mehr. Mit einem Mal fragte er sich, wo er eigentlich war? Ob es richtig gewesen war, dass er mit diesem Mann, den er gar nicht kannte, mitgefahren war, ohne dass seine Mutter davon wusste. Es war ein Uhr mittags. Sie würde in frühestens zwei Stunden nach Hause kommen. Wenn Winnie Glück hatte, rief sie von unterwegs aus an und wunderte sich, warum ihr Sohn nicht ans Telefon ging– wenn sie nicht zu sehr mit anderen, wichtigeren Sachen beschäftigt war.
» Ich will nach Hause«, piepste Winnie und wandte sich unruhig in dem grauen Kellerraum um.
» Gleich.« Der Mann grinste seltsam. Das sollte wohl freundlich aussehen. » Hab keine Angst. Ich will dir doch noch dein Kaninchen schenken.«
Das konnte der sich an den Hut stecken! » Ich glaube, meiner Mutter ist das nicht recht«, brachte Winnie mit Mühe heraus. » Ich will nach Hause.« Er ging rückwärts, Richtung Ausgang.
» Sie merkt doch gar nicht, dass du nicht da bist.« Der Mann kam bedrohlich auf ihn zu. Jetzt drehte Winnie sich um und rannte los. Beinahe stolperte er über das beknackte Kajak. In Zeitlupe rannte er die Treppe hinauf, als hätte er Kaugummi unter den Sohlen. Auf der obersten Treppenstufe spürte er, wie er hinten an der Kapuze festgehalten wurde.
Er hörte seine Stimme. » Warte! So einfach kommst du hier nicht wieder weg.« War es das Letzte, was Winnie in seinem Leben hören würde?
Kam nicht in Frage! Winnie zerrte an seiner Jacke. » Ich will jetzt bitte, bitte gehen!«
Er musste hier raus. Mit einem wütenden Ruck riss er sich los und biss in die behandschuhte Hand, die ihn festhielt. Er biss mit aller Kraft in diese seltsam harte Hand hinein. Jeder normale Mensch hätte vor Schmerz aufgeschrien. Doch der Mann blieb stumm. Er blieb ganz ruhig und sah zu, wie
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