Der Atem der Angst (German Edition)
Silbertablett überreicht! Ihre Internatszeit! Richtig! Heidi wurde kalt. Plötzlich war ihr gesamter Körper mit einer Gänsehaut überzogen. » Was wolltet ihr bei seinem Vater? Was will dieser ›Niemand‹ von dir?«
» Nichts!« Winnie zuckte mit den Schultern und plauderte weiter. » Er hat mich einfach nur mit zu seinem Vater genommen. Da haben wir rumgesessen und dem ein bisschen was erzählt. Du bist ja nicht nach Hause gekommen. Und ich hatte keinen Schlüssel, um aufzuschließen.«
Heidi stellte ihre Kaffeetasse ab und hörte sich automatisch sagen: » Du solltest ja auch gar nicht rausgehen.«
» Und du solltest nicht so spät kommen.«
» Mein Gott, Winnie!« Heidi warf einen Blick auf ihr lautlos blinkendes Handy. Sie konnte sich gerade noch zurückhalten, sofort dranzugehen. » Ist das so schwer zu verstehen? Da draußen rennt ein Wahnsinniger herum, der es auf Kinder in deinem Alter abgesehen hat. Bist du nicht mal auf den Gedanken gekommen, dass dein ›Niemand‹ zufällig exakt dieser Wahnsinnige sein könnte, nach dem ich ununterbrochen suche? Und dass er der Grund dafür sein könnte, dass ich im Moment sehr viel zu tun habe, damit er nicht noch mehr Kindern wehtut? Hast du daran mal gedacht?«
Winnie sah seine Mutter zärtlich, fast mitleidig an. » Ja, als wir gestern in seinen Keller gegangen sind und da ein Foto von dir hing, dachte ich ganz kurz, dass das kein gutes Zeichen ist.«
Heidi verschluckte sich beinahe an einem Stück trockenen Brötchen, das sie sich gerade übersprungsmäßig in den Mund gesteckt hatte. » Wo wohnt er?«
» Keine Ahnung. Durch die Unterführung und dann eine Straße lang.«
» Okay. Du kommst jetzt mit.«
Heidi griff nach Winnies Hand, zog ihn vom Stuhl und hinter sich her, aus der Küche, durchs Wohnzimmer, wo sie ihre Winterjacke vom Umzugskarton fischte, Richtung Haustür. » Zieh dir deine Schuhe an. Und deine Jacke. Und binde dir einen Schal um.«
Winnie gehorchte murrend. » Ich will aber nicht in die Schule. Ich bin müde.«
» Glaub mir, Freundchen.« Heidi zeigte auf ihn. Aus ihren Augen sprühten Funken. » Dich bringe ich garantiert nicht in die Schule. Da muss ich ja damit rechnen, dass du nach Unterrichtsschluss wieder verschwunden bist. Ich bringe dich ins Präsidium, und da bleibst du, bis der Fall gelöst ist.«
» Und was ist mit meinem Kaninchen?«
Heidi fuhr herum. » Mit welchem Kaninchen?«
» Das habe ich dir doch gestern Nacht schon gesagt. Das Kaninchen, das in der Garage steht. Hörst du mir überhaupt nie zu?« Winnie verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust.
» Das habe ich für einen Scherz gehalten«, schnaufte Heidi.
Sie riss die Haustür auf, nahm ihren Sohn an der Hand und zog ihn hinter sich her, den Vorgartenweg entlang, zur Garage. Sie zog das Garagentor auf und blieb fassungslos vor dem geschreinerten Holzstall stehen, der auf den ersten Blick wie Leonies Kiste aussah. Sie stotterte. » Fei-feinste Tischlerarbeit.«
Winnie blickte stolz zu seiner Mutter auf. » Sage ich doch.«
Jetzt reichte es ihr endgültig. Sie hockte sich vor ihren Sohn hin und packte ihn an den Oberarmen. » Winnie! Wo wohnt dieser Mann?«
» Habe ich doch schon gesagt, ich…«
» Denk nach!«
» Ich weiß es nicht, wir haben uns unterhalten. Ich habe nicht auf den Weg geachtet. Wie oft soll ich das noch sagen?«
Jetzt weinte ihr Sohn fast. Sie musste vorsichtig sein. Es war ihre Schuld. Sie hätte ihn nicht alleine lassen dürfen. Es war alles ihre Schuld und das wusste sie. Und genau darum war sie kurz davor, die Fassung zu verlieren. Sie war die schlimmste Mutter der Welt. Anstatt gestern Abend nach Hause zu kommen, war sie zum Haus von Isabels Mutter gefahren, um sie ein paar Sachen zu fragen. Aber es hatte keiner aufgemacht. Bella schien verschwunden zu sein, genauso wie ihr Sohn Louis, dessen Fingerabdrücke sie auf dem dicken Ast gefunden hatten, der in der Nähe von Michelles Leiche gelegen hatte. Diese beiden Leute mussten dringend ausfindig gemacht werden! Doch erst einmal brachte sie ihren Sohn in Sicherheit.
Heidi griff wieder nach Winnies Hand, zog ihren Sohn über die Straße und rannte beinahe vor Henners Wagen, der auf sie zugerast kam. Heidi konnte ihren Sohn gerade noch zur Seite wegreißen, während ihr Kollege in die Eisen stieg.
Heidi gab Winnie einen kleinen Schubs in Richtung des rostigen Volvos. » Los, steig schon mal ein. Ich komme gleich.«
Winnie gehorchte. Henner sprang aus seinem Wagen und
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