Der Atem der Angst (German Edition)
rannte um die Kühlerhaube herum. Obwohl er der Marathonmann war, schnappte er nach Luft. » Wir haben menschliche Überreste gefunden!«
» Bitte?«
» Auf dem Parkplatz vom 24-Stunden-Supermarkt liegen menschliche Überreste, eingewickelt in ein gelbes Regencape!« Henner riss den Reißverschluss seiner Winterjacke runter. » Der Filialleiter hat sie heute Morgen entdeckt, als er zur Arbeit gekommen ist.«
» Meine Güte!« Heidi fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Sie brauchte einen Augenblick, um sich zu orientieren. Gerade war sie gedanklich mit der Sägewerkerfamilie beschäftigt gewesen. Nun ging es um menschliche Überreste in einem gelben Regencape. » Bringt das Zeug ins Labor.« Heidi blickte nervös zu Winnie, aus Furcht, er könnte ihr entwischen.
» Schon geschehen.
» Die sollen so schnell wie möglich herausfinden, um wen es sich da handelt. Das kann kein Zufall sein, dass die Knochen jetzt auftauchen.«
Henner sah Heidi perplex an. » Wie kommst du darauf?«
Heidi hob die Hand. » Erzähle ich dir später. Außerdem sollen Leute von der Spurensicherung kommen und den Kaninchenstall, der in meiner Garage steht, auf Fingerabdrücke untersuchen.«
» Geht klar!« Henner schlug die Hacken seiner Turnschuhe zusammen und sprang in seinen Wagen. Heidis Herz pochte. Sie hatte es sehr eilig. Sie würde dem alten Sägewerker im Pflegeheim einen Besuch abstatten und herausfinden, wo sich sein ominöser Sohn aufhielt. Wie war noch einmal sein Name gewesen? Heidi zog die Wagentür hinter sich zu und drehte den Zündschlüssel herum. Ohne sich zu Winnie umzuwenden, sagte sie: » Anschnallen!«
Dann raste sie los. Konrad! Ha! Jetzt hatte sie es! Konrad hatte er geheißen. Sollten sich auf dem Kaninchenstall Fingerabdrücke finden, die mit denen auf Leonies Kiste übereinstimmten, würde sie sich für ihn einen Haftbefehl besorgen. Und zwar sofort. Was glaubte der eigentlich? Dass Winnie seiner Mutter nicht erzählte, mit wem er seine Freizeit verbrachte?
Aber was nur, was hatte sie ihm damals angetan? Hatten sie und ein paar andere Leute aus ihrer Klasse ihn beschimpft? Hatte er sich so schlimm erniedrigt gefühlt, dass es ausreichte, um sich Jahrzehnte später an ihr zu rächen, indem er sich an ihrem Sohn vergriff? Manche Verletzungen saßen tief. Das wusste Heidi nur zu gut aus eigener Erfahrung. Manchmal zeigten sie sich überhaupt erst viel später.
57 . LOUIS
» Es ist so schrecklich, wenn du ihre Kleider trägst.« Louis lief neben Maya die schmale Gasse zwischen den eng stehenden Fachwerkhäusern hindurch. Er hatte seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen und vermied es aufzublicken. Es war, als sei Michelle hier und doch wieder nicht. Er wollte nach ihrer Hand greifen und sie an sich ziehen. Aber im gleichen Augenblick wusste er, würde er es tun, würden ihn und dieses Mädchen aus dem Wald nichts miteinander verbinden. Keine Vergangenheit. Keine Liebe. Kein Lächeln. Michelle würde nicht wiederkommen. Und das tat entsetzlich weh. Würde diese Sehnsucht über die Jahre je kleiner werden? Würde die Erinnerung an sie verblassen? Würde er jemals ein normales Leben führen können? Wenn er Maya nur aus den Augenwinkeln ansah, versetzte ihm ihr Anblick einen tiefen Stich ins Herz. Sie sollte verschwinden. Er wollte nicht erinnert werden. Wütend trat er gegen ein Steinchen, das auf dem Kopfsteinpflaster lag. » Fuck!«
Und doch: Maya konnte nichts dafür. Angenehm war es bestimmt nicht für sie, in Michelles Kleidern herumzulaufen. Jetzt wandte sie sich kurz zu ihm um, ohne ihre Schritte zu verlangsamen.
» Wäre es dir lieber, ich würde in meinem Fellumhang neben dir herlaufen?« Maya vergrub ihre Fäuste in den Taschen der Kapuzenjacke. » In dem Fall könnten wir uns gleich mitten auf den Rathausplatz stellen und zum Abschuss anbieten! Im Übrigen wäre ich sowieso lieber nicht hier. Es ist, als wäre ich eine Fliege, die mit Absicht in ein Spinnennetz fliegt, in der Hoffnung, da lebend wieder rauszukommen.«
Louis schnaufte. Maya hatte ja Recht. Die Situation war hart. Seine Augen brannten. Egal, ob mit oder ohne Fellumhang, sollten sie besser aufpassen, niemandem zu begegnen, und einfach versuchen, so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone herauszukommen. Sie mussten nur noch die Fußgängerzone überqueren und am Hotel von Michelles Eltern vorbei. Von da aus konnten sie im Schutz der verwinkelten Gassen auf die Hauptstraße gelangen, die aus der Stadt hinaus, in Richtung Sägewerk
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