Der Atem der Angst (German Edition)
Meter zum Hauptgebäude. Die Tür des kleinen Heimatmuseums stand offen.
Louis hockte sich neben Maya. Er japste. » Du bleibst hier und wartest auf mich. Alles klar?«
» Bitte sei vorsichtig.« Obwohl Maya lächelte, war ihr deutlich anzusehen, dass sie kein gutes Gefühl bei der Sache hatte.
» Keine Sorge!« Louis stellte sich aufrecht hin und ging langsam hinüber zum Haupthaus. Aus dem Schuppen waren die Stimmen der Tischler zu hören. Ansonsten war niemand zu sehen.
Im Haupthaus war es kühl, die Wände waren mit hellem Holz verkleidet. Im Eingang lagen ein paar Prospekte über das Sägewerk sowie ein Stapel Postkarten. Daneben stand ein Pappkästchen für die Bezahlung. Aber so etwas wie ein Büro war nicht zu sehen. In der ehemaligen Wohnstube standen ein alter Kachelofen, ein durchgesessenes Sofa, zwei durchgesessene Sessel, ein Esstisch mit Stühlen, und an den Wänden hingen, genauso wie Louis es in Erinnerung gehabt hatte, gerahmte Familienfotos, die die Geschichte der Sägewerkerfamilie über die letzten 200Jahre dokumentierten. Louis trat näher an die Fotografien heran, unter denen Schilder mit Jahreszahlen angebracht waren. Er schritt an der Wand entlang, bis er vor einem Bild von 1986 stehen blieb. Es zeigte die gesamte Sägewerkerfamilie vor ihrem Wohnhaus im Sommer. Den Großvater im Schaukelstuhl, seinen erwachsenen Sohn mit dessen Frau und beiden Söhnen. Der ältere hatte dem jüngeren den Arm um die Schulter gelegt. Die rechte Hand des älteren Sohnes steckte in einem schwarzen Lederhandschuh. Fröhlich lachten sie in die Kamera.
Eilig zog Louis das Badefoto aus seiner Jackentasche und hielt es dicht neben das Foto, um die beiden Jungen, die darauf abgebildet waren zu vergleichen. Es bestand kein Zweifel. Der Junge auf dem Badefoto war derselbe, der hier mit seiner Familie vor dem Sägewerk posierte. Louis ging weiter. Unter seinen Schritten knarrten die Dielen. Er lauschte. Nichts war zu hören. Nur das Kreischen der Säge von draußen. Durch das Fenster sah er Maya, die hinter den Holzpaletten hervorlugte. Besser, er ließ sie nicht zu lange warten. Unbefugten war der Zutritt auf dem Grundstück untersagt. Er wollte kein Aufsehen erregen. Er wollte einfach nur mit dem Sägewerkersohn sprechen. Wohnte er noch hier auf dem Gelände? Ein Stück weiter hing noch eine größere Fotografie von ihm. Als etwa Zwölfjähriger. Darunter war ein kleines Messingschild angebracht, auf dem stand:
Unser geliebter Sohn Gero hat uns viel zu früh verlassen.
1975 – 1987
Auf diesem Foto sah er nicht älter aus als auf dem Badefoto. Das bedeutete, kurz darauf musste er schon verstorben sein! Oder genau an jenem Tag? In Louis’ Kopf rauschte es. Was war damals passiert? War auch er von den Teenagern erschossen worden? War seine Leiche dort oben am Badesee gefunden worden? Mit Wucht wurde Louis an der Schulter herumgerissen. Bevor er sich irgendwie orientieren konnte, hatte er schon eine Faust im Gesicht und lag am Boden.
Über ihm stand dieser Penner namens Timo, der ihm nachts splitternackt auf dem Flur begegnet war. » Was willst du hier?«
Bevor Louis irgendwas antworten konnte, riss ihn Timo am Sweatshirt wieder hoch auf die Beine. Er kam ganz nah ran und zischte: » Verpiss dich! Alles klar? Wenn du und deine kranke Mutter meinen, ihr könnt mir irgendwas anhängen, habt ihr euch geschnitten, alles klar?«
Louis starrte ihn eisig an und wisperte. » Meine Mutter ist tot.«
» Ist mir doch scheißegal! Ob du mich…« Plötzlich hielt Timo inne und ließ Louis los, der heftig aus der Nase blutete. » Was hast du gesagt?«
» Dass sie tot ist, du Vollidiot!« Louis warf Timo einen bitterbösen Blick zu. » Und ich hoffe für dein Leben, dass du damit nichts zu tun hast.«
Damit ging er raus, auf den Vorplatz. Wo Maya hinter dem Palettenstapel erschrocken hervorsprang und entsetzt flüsterte: » Louis! Was ist denn mit dir passiert?«
58 . NIEMAND
» Was habe ich mir nur dabei gedacht?« Er schüttelte über sich selbst den Kopf, als er die Toastscheiben in den Toaster steckte. Beim besten Willen konnte er sich heute früh nicht mehr erklären, wie er auf die wahnwitzige Idee gekommen war, den kleinen Jungen mit hierher, zu sich nach Hause, und ins Pflegeheim zu seinem Vater zu nehmen. Obwohl man längst erwachsen war, tat man immer wieder dumme Dinge, ohne sich darüber im fraglichen Moment im Klaren zu sein. Da hatte er sich stärker in ein fremdes Leben eingemischt, als ihm zustand. Er
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