Der Atem der Apokalypse (German Edition)
schwebte er unter Wasser. Cass konnte ihn sehen; seine Haut brutzelte, blieb aber blass, und sein Mund stand offen, als wollte er vergeblich etwas sagen. Er sah nicht Cass an, sondern konzentrierte sich voll auf Christian.
Sein jüngerer Bruder trug die dunkle Hose und das hellblaue Hemd, die er in der Nacht seines Todes getragen hatte. Er hatte die Krawatte gelockert. Auf seinen schwarz glänzenden Halbschuhen waren Blutflecken. Er stand nur einen Meter von ihrem brennenden Vater entfernt, sodass die Hitze seinen blonden Pony hochwehte, als stünde er im Wind. Tränen rannen in Strömen über sein blasses Gesicht und verdampften auf seinen Wangen. Von dem Arm, der schlaff herunterhing, fiel ein Blutstropfen auf seinen Schuh, so laut, dass Cass’ Trommelfelle schmerzten.
Zwischen Vater und Bruder saß ein Jugendlicher mit Rastalocken im Schneidersitz und hielt ein Baby im Arm. Der Junge hatte kein Gesicht, doch er starrte Cass von irgendwo in dem getrockneten blutigen Brei unter seinem Haarschopf an und wiegte behutsam das Baby.
Cass wollte einen Schritt nach vorne gehen, aber irgendwas zog ihn wieder zurück, und er zuckte zusammen, als er von kalten Fingern gekniffen wurde. Hinter ihm war gar keine Wand; da standen die Toten und zerrten an ihm herum. Hände griffen durch den Boden und zogen ihn hinunter, bis er auf dem Rücken lag. Er bat Christian und seinen Vater um Hilfe, doch sie rührten sich nicht. Für sie existierte er gar nicht. Er war nicht da.
Kalte Leichen krochen über ihn hinweg. Er erkannte sie an der Berührung. Kate, Claire, Jessica, der arme Junge, den sie für Luke gehalten hatten, die Menschen, die Solomon getötet hatte, die Studenten, die Selbstmord begangen hatten, die Ärzte, die beiden Jungen von Jackson und Miller. Es waren so viele und sie alle schoben ihm die Verantwortung zu.
Cass wollte schreien, aber sie steckten ihm Finger in den Mund und zerrten an seiner Zunge. Jetzt waren sie alle auf ihm und rissen ihm die Sachen vom Leib, um an sein Fleisch zu gelangen. In rascher Abfolge sah er unter seiner faulenden Haut Haare und böse Blicke, dann zuckte sein Blick nach oben zur Decke. Funkelnde Augen in einem rötlichen Gesicht eingerahmt von Silberhaar starrten auf ihn herab. Mr Bright sah auf sie alle hinunter und hatte wie immer alles im Blick.
Der Mann zwinkerte ihm von oben zu. In dem Augenblick begann das Baby, das außer Sichtweite war, zu weinen.
Und die Toten kamen in Scharen.
9
Was für ein seltsamer Abschied! Nach zwei Monaten unter seiner Aufsicht hatte Cass nicht das Gefühl, Mac besser zu kennen als am ersten Tag, und wahrscheinlich fand er das sogar ganz gut so. Falls Cass verhaftet wurde, konnte er über den großen Kahlkopf außer seinem Spitznamen nur aussagen, dass er kein Schotte war.
Sie waren früh aufgestanden. Mac und ein jüngerer Mann, den Cass nicht kannte, fuhren ihn ins grüne Crouch Hill. Mac hielt an der Ecke eines breiten Boulevards.
»Die Erste links. Nummer fünfundvierzig. Er erwartet Sie.« Mac stieg mit Cass aus, nickte, zwinkerte ihm zu und gab ihm einen Briefumschlag, in dem mehrere Tausend Pfund steckten.
»Von Mr Mullins. Als Startkapital.«
Cass nahm das Geld. Stolz konnte er sich nicht leisten, damit war es vor allem bei Artie Mullins lange vorbei. Er stand tief in seiner Schuld. Mullins und Pater Michael hatten Cass wirklich verblüfft. Es ging nicht nur darum, dass sie ihm Geld oder eine Wohnung gegeben hatten. Viel wichtiger war, dass die beiden an seine Unschuld glaubten. Dabei waren sie sehr unterschiedlich. Er verdiente es nicht, dass sie an ihn glaubten. Cass hatte immer schon das Gefühl gehabt, in einer Grauzone zu leben, doch in letzter Zeit wurde das Grau immer dunkler und das wenige Gute aufgebraucht, bis nur noch Rachsucht übrig war. Möglicherweise änderte sich das, wenn er Luke wieder hatte, und vielleicht war es deshalb auch so wichtig für ihn, den Jungen zu finden. Luke war seine letzte Hoffnung auf Erlösung.
Erlösung ist der Schlüssel
. Die letzten Worte seines Bruders hallten durch seine Gedanken und noch immer hörten sie sich wahr an.
Er nickte Mac zum Abschied zu und wartete auf dem Bürgersteig, bis der Wagen verschwunden war. Dann ging er los. Er trug eine Reisetasche mit Anziehsachen über der guten Schulter und den schäbigen Koffer in der Rechten, den Pater Michael ihm gebracht hatte. Er dachte an das große Haus in Muswell Hill, gar nicht so weit von hier, das so lange sein Zuhause gewesen war, an
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