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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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über die Bordwand und ließ die Hände baumeln. Dann glitt Gabriel ins Wasser. Er müsse einfach, sagte er, weil er sonst verbrennen würde. Dan wollte nicht. Bald gehe die Sonne unter, sagte er, dann werde uns schon kalt genug werden.
    Die Boote kamen zusammen. Bald darauf schrie Skip von unten, am Boot hingen Muscheln, Hunderte, und sie würden sie jetzt abreißen und knacken und sich das Fleisch in den Mund stopfen. Es wurde dunkel, wie üblich ganz plötzlich, und nachdem die Windlichter angezündet waren, konnte man nur noch
spritzendes Wasser und aufgeregtes Schreien hören. Beide Boote waren voller Muscheln. Wir reichten die Eimer nach unten, und als sie gefüllt waren und keine einzige Muschel mehr unter den Booten hing, waren die Jungs zu schwach, um über die Bordwand zu klettern. Sie versuchten ein Knie zu heben und sich mit einem Arm hochzuziehen, wie Kätzchen, die die Treppe hochsteigen. Es war kläglich und komisch zugleich, und sie mussten über sich selbst lachen. Wir alle mussten lachen, als wir sie wie schwere Netze in die Boote zogen, und wir aßen die Rankenfußkrebse oder Strandschnecken oder was immer das für Dinger waren. Herrlich weich und saftig, direkt am weißen Hals aus der braunen Schale gepflückt. Wir sagten, wir würden ein paar aufbewahren, aber wir vertilgten den ganzen Berg auf einmal. Wir alle außer Mr Rainey, der sagte, er habe keinen Appetit darauf. Keinen Appetit darauf! Hätte man mir einen Wurm angeboten, ich hätte ihn probiert.
    »Los, Mann«, drängte Dan, »sie werden Ihnen guttun. Nur eine, hier, probieren Sie.«
    »Lasst mich schlafen«, sagte der arme Kerl, lehnte den Kopf gegen das Dollbord, faltete die Arme und schloss die Augen.
     
    Es ist schon komisch, was man sagt, wenn die Worte strikt rationiert sind. Unsere Münder konnten nicht sprechen. Deshalb war ein Wort etwas Heiliges, Kostbares, sehr Bedeutsames. Unsere Münder lieferten die einzelnen Wörter mit enormen Schwierigkeiten ab, sie rissen und hakten im Hals.
    »Das war herrlich frisches Wasser«, krächzte Rainey.
    Er sah seltsam aus, Hals und Gesicht waren stark aufgedunsen. Ich sah, wie Dan den Mund zum Sprechen vorbereitete, Zunge und Lippen mehrmals bewegte, ehe er ein Wort herausbekam.
    »Verrückt«, sagte er. »Gnade Gott.« Dicke, trübe Fäden zogen sich zwischen seinen Lippen.
    Wir hatten eine Weile Nordwind gehabt und ein hübsches Tempo vorgelegt, doch dann hatte der Wind gedreht. Seit Gott weiß wie lange kamen wir kaum voran, krochen übers Meer wie eine Schnecke über den Bürgersteig. Die Vögel waren verschwunden. Ich vermisste ihre krakeelende Begleitung. Fische ebenfalls, kaum einer kam an die Oberfläche.
    »Wie lang?«, fragte John Copper. Wasser.
    Der Kapitän schluckte hörbar. »Stunde«, sagte er.
    »Nicht wahr!«
    Nicken.
    Yan beugte sich übers Dollbord und hielt seine Hand ins Meer. Er murmelte etwas, schöpfte ein wenig Wasser und schüttete es sich über die Lippen.
    Proctor schüttelte den Kopf. »Nicht trinken.«
    »Warte«, sagte Dan. »Nur eine Stunde.«
    »Kann nicht.« John machte es wie Yan.
    »Aber wenn wir nicht schlucken . . .«, sagte Tim.
    »Nein.«
    Yan und John leckten sich die Lippen. Das Schimmern von Feuchtigkeit, einfach zu viel.
    »Trink Pisse«, sagte Dan mit belegter Stimme. »Besser.«
    Ich hatte schon daran gedacht. Hatte es mir für schlimmere Zeiten aufgespart. Wir hatten sogar darüber gelacht, Tim und Skip und ich. Aber vorher würde ein Boot kommen oder eine Insel mit Flüssen. Eine Insel, ein Boot, eine Erscheinung, Gott, ein Engel, der Teufel höchstpersönlich, irgendetwas, bitte komm.
    »Jungs, Jungs, meine Jungs«, hörte ich Dan aus großer Ferne sagen, »ich bin stolz auf euch. Ich werde euren Mut, eure Charakterstärke preisen, wenn wir erst mal zu Hause sind. Nur noch ein bisschen, Jungs. Haltet durch.«
    Doch für mich klang das nur noch nach Wahnsinn. Wir waren jenseits von jeder realen Welt, an einem Ort wie ein Traum, wo Ängste Schlimmes anrichten konnten, wo nichts unmöglich
war. Ich drehte mich weg, damit ich nicht das Wasser in ihrem Mund sehen musste, nicht die Zunahme ihres Schmerzes, wenn das Salz auf die Geschwüre traf. Wir waren dabei zu verfaulen.
    »Unsinn«, hörte ich Rainey sagen. »Solange ihr es nicht runterschluckt, kann ein Mundvoll nichts Böses anrichten.«
    Ich schloss die Augen. Dunkelheit legte sich über das Meer. Ich hätte gern Sam singen gehört. Wenn ich es versuchte, würde es mir gelingen. Sein

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