Der Atem der Welt
sparsam mit dem Wasser sein, für alle Fälle.
»Es wird nicht reichen, oder?«, fragte Simon in sachlichem Ton.
»Doch. Wenn wir sparsam sind.«
»Bald regnet es.«
»Der Regen nützt nichts.«
»Wie weit noch bis Chile?«, fragte Dag.
Der Kapitän seufzte. »Hängt vom Wetter ab. Vielleicht zwanzig Tage.«
Niemand sagte etwas. Die zwanzig Tage standen zwischen uns wie eine Säule von gewaltigem Umfang.
»Keine Sorge«, sagte der Kapitän, »noch kein Grund, die Ration zu verkleinern, aber wenn in den nächsten« – er zögerte ganz kurz, als träfe er die Entscheidung in diesem Moment – »sechs Tagen nichts geschieht, müssen wir das vielleicht.«
»Mit weniger schaffen wir es nicht«, sagte John Copper.
Der Kapitän schwieg einen Augenblick, und Skip ergriff die Gelegenheit, hielt sich die Arme über den Kopf und begann zu stöhnen.
»Was ist los, Skip?«
Er schüttelte nur den Kopf und stöhnte weiter in einer Art summendem Singsang und schaukelte hin und her.
»Lasst ihn doch in Ruhe, wenn er sich so besser fühlt. Stöhn weiter, Skip, nur nicht zu laut.«
»Keine Ahnung, woher er die Kraft dafür nimmt.«
»Ich weiß es. Es wird heißer.«
»Heißer.«
Kann das sein? Wir stehen doch so schon in Flammen.
»Weil ich den Drachen getötet habe«, sagte Skip und sah hoch zu uns. »Deshalb ist alles passiert.«
»Oh, halt die Klappe!«
Eines Morgens erhob Rainey sich vom Bootsboden, stützte die Hände aufs Dollbord und starrte mit funkelnden Augen in die Ferne. Es war ein glühend heißer Tag, und die Sonne stand fast im Zenit.
»Schützen Sie Ihren Kopf, Mann«, sagte Dan, aber Rainey brachte ihn mit einer steifen Geste zum Schweigen. »Pscht!«
»Was ist?«
»Hört mal!«
Nichts.
»Was ist denn?«
»Hört ihr es nicht?«
»Ich hör gar nichts.«
»Jaff, und du?«
Ich schüttelte den Kopf. Das Schütteln setzte ein Summen in meinem Gehirn in Gang.
Jetzt horchten wir alle.
»Das arme Ding«, sagte Rainey, und seine Augen füllten sich mit Tränen. »Das arme Ding.«
»Wo?«, fragte Skip. »Wo ist das arme Ding?«
Wo sollte das arme Ding schon sein, wenn nicht dort draußen auf dem Meer. Es war ja nicht hier bei uns in unserem kleinen Boot. Auch nicht drüben in dem vom Kapitän. Denen ging es noch ziemlich gut. Was würde denn weinen im Meer oder in der Luft?
Tränen liefen Mr Rainey über die Wangen. »Lieber Gott, lieber Gott, oh, du lieber Gott«, sagte er, »lass dieses Ding vorübergehen.«
Mr Rainey war auch nur ein Mensch. Zwar, bis zu einem gewissen Grad, ein sehr starker, aber er baute ab. Dan brachte ihn dazu, sich hinzulegen, und wischte ihm das Gesicht ab. »Sie haben Meerwasser geschluckt«, sagte Dan. »Ab jetzt nicht mehr. Hier.« Und ohne weiteres gab er Mr Rainey seine eigene Wasserration und behielt nur einen winzigen Tropfen für später zurück. »Finger weg vom Meerwasser, Mann«, sagte er, »das tut nicht gut. Bringt Sie um, Mann. Finger weg davon, und es geht Ihnen wieder besser.«
»Ja«, sagte Mr Rainey mit klappernden Zähnen.
»Und jetzt reißt euch zusammen. Ich meine es ernst. Wenn ihr aufgebt und euch gehenlasst, was passiert dann? Dann seht ihr schon am nächsten Morgen ein Schiff am Horizont.«
Aus Südwesten zog ein Sturm herauf, und wieder mussten wir lenzen, nur Rainey nicht, der an der nun nutzlosen Stelle sitzen blieb, wo das Steuerruder gewesen war, bevor eine raue See es weggerissen hatte. Er weinte stoisch und starrte hinaus auf – was? Einen Blitz. Der Himmel grollte. Wenn er stirbt, dachte ich, können wir seine Portion haben. Er wandte sich vom Was
ser ab, seine Tränen waren unbeantwortet geblieben. Er legte sich auf den Bootsboden und redete mit sich selbst. Manchmal lachte er fröhlich, manchmal weinte er wie ein Neugeborenes und rief nach seiner Mama. Grauenhaft, diesen großen Mann in solch einem Zustand zu sehen. »Maria!«, rief er. »Maria, Maria«, stöhnte er.
»Seine Frau«, sagte Gabriel.
»Ja, ja, wir denken alle an unsere Frauen«, sagte Dan. »Bist du verheiratet?«
Gabriel nickte.
Am Abend, kurz bevor es dunkel wurde, richtete Mr Rainey sich auf, rieb sich die Augen und leckte seine gummiartigen Lippen mit seiner trägen Gummizunge. »Nun«, sagte er, »da sind wir.«
»Wir auch«, sagte Gabriel.
Tim legte seine Hand in meine. »Der Himmel«, sagte er und sah hinauf.
Es war die Sekunde vorm Dunkelwerden. Alles flimmerte.
»Woher kommen Sie, Mr Rainey?«, fragte Skip.
Rainey blickte ihn an und dachte einen
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