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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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Moment nach, dann lächelte er langsam. »Norwich«, sagte er. Darauf Tim:
     
    Der Mann im Mond wurde auch nicht verschont.
    Er machte sich auf nach Norwich.
    Zog gen Süden mit Fleiß, der Mund ward ihm heiß.
    Das kam von dem kalten Porridge.
     
    »Esst ihr alle Porridge in Norwich?«, fragte Skip.
    Mr Rainey lachte, und Tränen schossen ihm in die Augen und liefen über sein dreckiges Gesicht. »Klar, so wie alle nur Butter in Kalkutta«, erwiderte er.
    Wir brachen in Lachen aus. Die Männer im Kapitänsboot mussten denken, bei uns sei es plötzlich wieder so lustig wie frü
her. Aber mitten in unserem Gelächter wurde Mr Rainey mit einem Mal rückwärts gegen das Dollbord geschleudert, als hätte ihn eine unsichtbare Riesenhand geschubst. Dann wurde er verrückt, tobte und schlug ganz entsetzlich um sich, warf den Kopf hin und her und stieß sich so heftig, dass er sich dabei gut den Hals hätte brechen können, sein Mund stand offen, die Zunge schoss rein und raus, er kniff die Augen fest zu, trat mit den Füßen und fuchtelte mit den Armen. Das erschöpfte ihn derart, dass mir bei seinem Anblick ganz elend wurde. Ich ertrug es nicht, ihn so zu erleben, und doch war er da vor mir und schlug sich selber tot, und jedes Mal, wenn sein Kopf gegen die Planken knallte, schloss ich die Augen, so wie man es bei lauten Hammerschlägen macht.
    Dan und Tim wollten ihn halten, schafften es aber nicht.
    Seine Augäpfel rollten immer weiter nach oben, blauweiß, quollen heraus. Dann blieb das Weiße stehen, zitterte, er wurde still und war tot.
    11
    Ich hatte noch nie jemanden sterben sehen, bis ich Billy Stock sterben sah. Tiere ja, viele. Aber nie einen Menschen, nie einen Menschen, den ich kannte, einen Billy Stock oder einen Mr Rainey.
    Die Boote kamen zusammen. Wir nähten Mr Rainey in seinen Kleidern ein, Gabriel und Skip und ich, kein Wort fiel zwischen uns. Ein letzter Blick auf sein Gesicht: geöffnete Lippen, gerunzelte Stirn, halb im Schatten des Leichentuchs. Blaue Haut. Gabriel verschloss das Tuch darüber und nähte es mit seiner Knochennadel zusammen. Der Kapitän sprach ein Gebet. Dan und Tim ließen ihn über die Bordwand gleiten.
    »Oh Herr, wir sind elf Seelen, die auf dem Meer treiben . . .«
    Tim und Dan und Skip und Gabe und ich auf unserem Boot. Sechs drüben, der Kapitän, John Copper, Wilson Pride, Dag, Simon, Yan.
    Dan sagte zu uns: »Er war ja die ganze Zeit mit Salzwasser zugange. Klammheimlich. Und das hat ihn erledigt. Macht ihr das bloß nicht, Jungs. In Valparaiso stoßen wir mit einem guten Tropfen an.«
    Wir bekamen unsere tägliche Ration. Einen Becher Wasser. Ein Stück Zwieback. Ich versuchte, das bisschen zu strecken. Ich war nicht mehr so hungrig wie am Anfang, jetzt war es anders. Die Krämpfe waren verschwunden, aber etwas war geblieben, geisterhaft, so wie ich es mir vorstelle, wenn einem ein Bein amputiert wird und man trotzdem das Gefühl hat, es sitzt da immer noch, zuckt und juckt und tut weh und macht alles, was ein Bein so tut. Ich kratzte winzige Krümel von meinem harten Zwieback ab und lutschte sie von den Fingern. Ich war sehr
gut darin. Sehr vernünftig, fand ich, nicht wie Skip, der mit seinem Stück in fünf Minuten fertig war und mich dann, wie ein Hund, dabei beobachtete, wie ich meins aß. Tim war mit seinem auch sehr schnell. Anschließend nagte und saugte er immer bis zu ein oder zwei Stunden lang friedlich und ausdauernd am Leder seines Ruders.
    »Wie schmeckt es?«, fragte ich. »Das da?«
    »Nett.«
    Die Zeit verging ein wenig leichter damit. Ich ließ die Augen wandern, auf der Suche nach Essbarem. Holz? Wie wäre es damit. Holz gibt es hier überall. Holz. Ich werde es Dan gegenüber erwähnen. Es ist möglich. Erst einmal Leder, damit sind wir gar nicht so schlecht dran. Es gibt immer noch einige Stiefel, die von Proctor und Dan, und Gürtel. Und seit das mit Meerwasser vollgesogene getränkte Zeug zu Ende ist, haben wir nur noch schönen trockenen Zwieback, und es ist immer noch reichlich Wasser da. Fürs Erste. Was noch. Mehr Krebse. Muss runtertauchen und nachsehen. Aber ich habe Angst, das Boot zu verlassen, fühle mich schwach, bin nicht sicher, dass ich es auch zurück schaffe. Könnte alles Mögliche da unten sein. Ich sehe Kammmuscheln, dick wie Boviste, weiß und orangefarben, schon aus den Schalen gelöst, die überall am Bootskiel kleben, dort unten wie Unterwasserblumen blühen und so köstlich wie die klebrige chinesische Frucht schmecken,

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