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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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umklammerte ein Stück Stoff, eine Hand, eine Schulter, einen Ellbogen. Alle paar Minuten wetterleuchtete es über den ganzen Himmel, und wir konnten einander sehen, gespenstisch angeleuchtete Gesichter, überdeutlich, mit aufgerissenen Augen.
    Am dritten Morgen flaute der Wind ab, die See beruhigte sich, und wir richteten die Masten wieder auf. Wir waren vielleicht eine Stunde gesegelt, als wir aus großer Ferne das schwache Geräusch eines Schusses vernahmen. Tim schob gerade Wache, und er rief laut: »Sie sind es! Sie sind es!« Wir erhoben uns alle und starrten über das flirrende Meer.
    Ich sah nichts.
    »Stimmt!«, schrie Gabriel, »ich sehe sie.«
    Dann sahen wir alle den winzigen dunklen Fleck im Westen, sehr weit entfernt, und Mr Rainey holte seine Pistole und feuerte einmal in den Himmel. Ein schwaches Brausen war unsere Belohnung.
    Wir jubelten, mit schmerzenden Kehlen.
    »Unglaublich«, sagte Dan. Er packte mich zitternd an der Schulter. Obwohl er wie verrückt lächelte, sah er erschrocken aus. Seine wässrigen blauen Augen waren, ohne auch nur einmal zu blinzeln, beinahe entsetzt auf das gerichtet, was da auf uns zu fuhr, und plötzlich hatte ich die Vision, das Boot würde sich nähern, und wir würden erkennen, dass es voller toter Männer war, die noch immer ihren Beschäftigungen nachgingen. Ihre Wunden hätten unkontrolliert gewuchert und bedeckten inzwischen jeden Zentimeter ihrer Körper. In ihren Augen stünde das Grauen.
    »Mr Rainey!«, rief der Kapitän uns zu.
    Jetzt konnten wir ihre Gesichter sehen, ihre guten alten vertrauten Gesichter, Kapitän Proctor, Wilson Pride, Yan, Simon, Dag und John. Alle strahlten.
    Mr Rainey riss sich zusammen und rief hinüber, wir hier seien alle wohlauf und bester Dinge.
     
    Gemeinsam nach Süden, stürmische Wellen, ununterbrochenes elendes Lenzen. Die Wunden verschlimmerten sich, immer mehr überall an Bauch und Seiten, Beinen und Hals, Händen und Füßen. Schmerz und Jucken, alles durcheinander. Das Jaulen der Fiedel, ihr wunderbar mäanderndes Schmachten.
    Hungrig wie nie zuvor. Verängstigt. Ein Durst, der Brust und Kehle verbrannte. Mit jedem Tag wurde es schlimmer nach der Ration. Tim meinte, vielleicht sollte man besser gar keine mehr kriegen, weil es einem danach immer so schlecht ging. Keine zu kriegen war aber nicht möglich. Wenn der Becher kam, war es egal, was man dachte, die Hand griff danach, hielt ihn an die Lippe, und man schluckte. Ich fantasierte, ich würde Rainey einfach beiseiteschubsen und mir nehmen, was ich wollte. Wie kam er dazu, mir mein Essen zu verweigern. Aber er war sowieso schwach, gar nicht mehr unser alter erster Offizier, vor dem ich einst eine Heidenangst hatte. Was würde er tun? Mich erschießen. Mich erschießen.
    Einmal hatte ich gerade die Wache übernommen, als etwas gegen das Segel schlug und ins Boot fiel.
    Ein Fisch. Noch einer. Noch einer.
    Großes Gedrängel.
    Ein ganzer Haufen Fische. Wunderhübsche Dinger, silberne Blitze – einige nur fingerlang, andere groß wie ein Fuß –, die aus dem Meer sprangen, wie Sturmvögel flogen, die Wasseroberfläche leicht streiften und von Zeit zu Zeit untertauchten, um gleich wieder hochzuschnellen. Direkt hinter dem Kopf saßen Flügel, und am Schwanz zitterten kleine Flossen. Ungefähr ein
Dutzend landete in unserem Boot – drei oder vier von recht ansehnlicher Größe und eine Menge Winzlinge. Wir verschlangen sie roh. Einer landete direkt in meinem Schoß, zuckte ein paar Mal hin und her, bis ich ihn mit beiden Händen packte und mit dem Kopf gegen die Bootswand schlug.
    »Nicht die Innereien essen«, sagte Dan, »sieh her, Tim, reiß sie auseinander, so wie ich – Jaff, hast du auch einen?«
    Es war, als äße man das Meer.
    »Seht ihr?«, sagte Dan und pulte sich Gräten aus den Zähnen. »Seht ihr? Göttliche Fügung.«
    »Göttliche Fügung!« Gabriel lachte. »Die kann in beide Richtungen gehen.«
    »Stimmt«, sagte Dan. »Aber jetzt ist sie auf unserer Seite. Rainey, ist alles in Ordnung?«
    »Nein. Nichts ist verdammt nochmal in Ordnung. Sehe ich etwa so aus?«
    Seine Augen quollen ihm inzwischen halb aus dem Gesicht. Seit wir das zweite Schwein gegessen hatten, litt er unter entsetzlichen Kopfschmerzen und verbrachte viel Zeit damit, sich die Stirn und die Stelle hinter den Ohren zu reiben. Im Grunde war längst Dan unser Skipper. Ein ganzer Monat war vergangen. Hitze, ganz plötzlich, Hitze bei Tag, Kälte bei Nacht. Meine Zunge klebte mit einem

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