Der Atem der Welt
Dag plötzlich einen Schrei ausstieß und wir einen Dornhai zwischen unseren Booten sahen. Gabriel griff nach seinem Speer. Glänzende Flossen, drei, vier tauchten auf und wieder unter. Vergebens. Es gelang uns nicht, nah genug an sie heranzukommen. Wir verfolgten sie, so gut wir konnten, fast eine Stunde lang, bevor sie uns verließen und in einer Reihe gen Westen verschwanden. Vollkommene Dunkelheit senkte sich herab, kein Mond, keine Sterne. Tim hatte Wache, danach Dan. Ich schlief. Als ich erwachte, sprach Mr Rainey gerade mit Gabriel und hustete dabei beunruhigend.
»Das Boot ist weg, Jaff«, sagte Tim völlig verblüfft.
»Was heißt das?«
»Weg.«
»Was? Das andere Boot?«
»Ja.«
»Wie denn?«
»Als es hell wurde, war es nicht mehr da.«
Ich setzte mich auf. Das Meer war leer. Skip erwachte, richtete sich langsam auf und blinzelte. Keiner sagte etwas. Machen konnten wir nichts. Wir tranken unsere Ration. Mr Rainey spuckte seine wieder aus und wäre dabei fast mit über Bord geflogen.
»Legen Sie sich hin, Mann«, sagte Dan.
»Wie können sie weg sein?«, fragte Skip und klang ziemlich verblüfft.
Ich versuchte, nicht zu denken.
»Ich glaube, das mache ich«, sagte Rainey blinzelnd. Seine Stirn war knallrot und schweißnass.
»Aber wohin sind sie?«
»Pscht, Skip.« Gabriel legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Darauf gibt es keine Antwort. Es hat keinen Sinn, diese Frage zu stellen.«
»Gib mir dein Messer, Gabe«, sagte ich, »ich möchte mir die Fußnägel schneiden.«
»Schneid dir nicht die Zehen ab, Junge.« Er reichte es mir.
»Suche ist unmöglich«, sagte Dan. »Gibt nichts, was wir tun können.«
»Sie haben den Quadranten«, sagte ich und begann mit dem Nägelschneiden.
»Und die Streichhölzer«, ergänzte Skip.
»Macht nichts. Wir können auch so berechnen.« Dan lächelte tapfer. »Valparaiso, wir kommen!«
Die Fiedel würde uns fehlen. Ich konzentrierte mich auf meine Zehen. Meine Augen wurden nass. Der Verlust des anderen Boots war unerträglich. Unsere Freunde da drüben, die Köpfe stets zur Seite gedreht, das Gesicht des Kapitäns breit und eulenhaft, Yans hübsche hohe Wangenknochen, der brütende Simon, der stoische Wilson, Dags Haare hell wie Weißkäse. Und der arme verängstigte John Copper, der sich auf die Lippen biss. Sie niemals wiedersehen? Jedenfalls waren sie nicht tot wie jene
anderen, und jetzt musste ich sie mir wieder ins Gedächtnis rufen, denn Vergessen ist Tod. Ich legte das Messer weg. Ich war blind, blind vor Tränen. John Copper – nein, er ist nicht tot – denk nach – Billy. Billy Stock. Der arme Henry Cash. Oh, natürlich, Martin Hannah. Martin Hannah, Abel Roper, Joe Harper – wir haben seine Werkzeugkiste – Mr Comeragh – der nette Mr Comeragh mit seinen freundlichen Augen und der großen Nase. Felix . Wer fehlt noch? Wer? Sam! Wie konnte ich den alten Sam vergessen? Wenn ich die Augen schloss, war er da. Wenn ich die Augen schloss, war alles Mögliche da, Ishbel, der Kamin bei Meng mit den Meerschaumpfeifen, die Ecke Watney Street.
Den ganzen Tag lang segelten wir blind. Die Zeit taumelte. Mr Rainey fiel in einen unruhigen Schlaf. Dan pfiff leise.
»Wie weit ist es wohl noch bis Chile?«, fragte Tim.
Dan lachte. »Eine kleine Strecke.«
»Noch mindestens zwei Wochen entfernt«, sagte Gabriel.
Mr. Rainey hatte sich das Hemd vorne aufgerissen und kratzte sich, immer noch schlafend, wütend an drei schillinggroßen Wunden, die ein Dreieck auf seiner haarlosen Brust bildeten.
»Gleich regnet es«, sagte Dan.
Es stimmte. Auf See ist schlechtes Wetter wie verlaufende Farbe. Der ganze Himmel war verschmiert. Die verschiedenen Grauabstufungen bewegten sich tanzend, liefen am geschwungenen Horizont entlang, formierten sich. Der Osten glänzte schieferfarben und leuchtete wie ein Gott zu uns herab. Mr Rainey schlief im Regen. Der Regen kühlte unsere Wunden. Wir hielten unsere Gesichter hoch und fingen die Tropfen auf. Er lief uns in die Augen und wusch allen Schweiß fort. Er sang wie ein Chor, wie Millionen Stimmen, alle in vollkommener Harmonie. Das Boot begann zu bocken und zu hüpfen. Große Wellen rollten unter uns durch.
»Es kommt. Segel runter«, sagte Dan.
Das Unwetter tobte die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag und noch die Nacht darauf. Wir konnten nichts machen mit dem Boot. Wir legten uns, alle aneinandergedrängt, flach auf den Boden. Als es dunkel wurde, hielten wir uns aneinander fest, jeder
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