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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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aus ausgelutschtem Ruderleder, und seine Augen glänzten vor Tränen. Wir sangen Warst du je in Rio Grande und Reuben Ranzo und Jetzt geht's um die Ecke, Sally , und als unsere Stimmen dünner wurden, summten wir weiter in der Stille der Dunkelheit. Tim schlief ein und umklammerte im Schlaf meinen Arm so fest, dass es wehtat. Sein Mund ging auf, und sein Kopf kippte nach hinten. Ich musste an zu Hause denken. Wie er und ich in Jamrachs Hof herumgealbert und einander geärgert hatten. Die Kälte frühmorgens, das Grummeln im Bauch. Haare fallen in Büscheln aus. Nein, das ist jetzt. Ich bin froh, dass Mama es nicht sehen kann. Es würde ihr nicht gefallen, der armen alten Mama. Sie würde weinen. Was sollte ich machen? Es war zu groß, zu viel für mich. Also schob ich Mama beiseite, nicht zu weit weg, nicht so, dass ich sie nicht immer, wenn ich wollte, hätte zurückrufen können. Stattdessen wandte ich mich Ishbel zu. Mir wurde leicht im Kopf, und ich wusste überhaupt nicht, wo ich war. Ich schlief und war gleichzeitig wach, zu viel wirbelte um mich herum, der helle, kreisende, funkelnde Himmel. Das Letzte, was ich sah, war eine Wolke, die sich direkt über mir bildete, Schwärze, die sich bildete. Ich musste unbedingt schlafen. Dahinsegelnder schwarzer Schlaf, wolkenweich, warm in meinem Bett, dem Regen trotzend. Der Mond verschwand hinter Wolken, während ich schlief, und ich öffnete die Augen in einer so absoluten Dunkelheit, dass ich mir blind vorkam. Irgendein gigantisches Ding drosch da draußen auf den Ozean ein, nicht sehr weit weg, ein gewaltiges Platschen und Spritzen und Prügeln. Tims Hand umklammerte immer noch meinen Arm. Eine Stimme sang: »Lieber Gott bitte lieber Gott bitte lieber Gott bitte lieber Gott bitte . . .« Endlos.
    »Tim«, sagte ich, »was ist das?«
    Ein Arm legte sich um mich. »Ich weiß nicht.«
    »Bleibt still liegen«, sagte Dan, »das geht vorbei.«
    Es klang, als würden Berge ins Meer stürzen. Nicht wie ein Wal. Nicht wie irgendetwas, das ich kannte. Ein Monster, das aus der Tiefe hochkam, der dunklen Tiefe da unten, irgendein furchtbares, bösartiges Wesen . Es ist wahr, es gibt Stätten des Grauens auf der Erde, Wasserfälle, die unendlich sind, Risse, die sich auftun und Höllenatem ausstoßen. Es ist wahr, es gibt schlimme Orte, das Geräusch von Weinen über den Wellen
, wütende Winde, die mit den Stimmen ertrunkener Seelen schreien. Die Geistermannschaft der Essex segelt noch immer über die Meere. Ich begann zu schniefen. Jenes Wesen, was immer es sein mochte, war groß und nah, und die Wellen, die es auslöste, schlugen gegen die Bootswand.
    »Alles gut«, sagte Tim, »es geht weg.«
    »Bitte lieber Gott bitte lieber Gott bitte lieber Gott bitte bitte . . .«
    Wessen Stimme?
    In einem gewaltigen Sog zog das Meer die Kreatur in die Tiefe. Irgendwo in der Ferne flackerte ein Licht, das Boot des Kapitäns.
    »Es ist weg«, sagte Dan.
    12
    Danach gab es keinen Sinn mehr und keinen Verstand. Was blieb, war heller und wirklicher.
    Ich stützte mich auf meine Arme und beobachtete stundenlang das Meer. Es veränderte sich unaufhörlich. Ich konnte die Augen nach Belieben scharf oder unscharf stellen, es hier leicht verwischen, dort genauer einstellen, konnte es gleiten, stürzen, sich verschieben lassen. Tagelang trieb ich so dahin. Einmal hörte ich, ganz schwach, in der Ferne ein Mädchen singen. Der Himmel? Das Meer? Ich weiß es nicht. Es klang traurig und weich, und beim Zuhören musste man einfach weinen. Wer sie war, weiß ich nicht. Verlorene Liebe. Unwiederbringlich dahin. Ich hätte ins Wasser gleiten, zu ihr hinschwimmen können, wenn ich nicht solch ein Schwächling gewesen wäre. Sie sang den ganzen Morgen lang, übertönte den Wind, verstummte am Mittag. Danach kam ein Hai, wunderschön, schwamm zwischen den Booten, außer Reichweite. Zwei Haie! Spitze schwarze Flossen, die nebeneinander das Meer durchschnitten. Nahrung. Wir für sie, sie für uns. Wir hätten Yan als Köder behalten sollen. Es hätte ihm doch nichts mehr ausgemacht, oder? Ich sah Yans Gesicht vor mir, so wie ich es zuletzt gesehen hatte, mit weit geöffneten Lippen, fast wie ein beginnender Schrumpfkopf, weil seine Lippen sich von den langen Zähnen zurückgezogen hatten. Sein Gaumen war weiß, wie Knochen. Die schwarzen Flossen begleiteten uns, pflügten das Meer den ganzen Tag, kreisten, näherten und entfernten sich. Jetzt wurde Wilson Pride krank, ebenso Dag. Der arme alte John

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