Der Atem der Welt
die wir – wo noch mal? – aßen. Fleisch. Der Eintopf, den meine Mama mit fettem Hammelfleisch und Zwiebeln und Graupen kochte, das Fett, das zitternd oben im Topf schwamm, während der Eintopf köchelte. Gebratener Fisch, dampfende Schichten aus augapfelweißem Fleisch. Gestampfte Rüben mit einem Klacks schmelzender Butter. Speck, der in der Pfanne brät und zappelt, Speck und dazu ein Spiegelei, runde orangefarbene Kuppel, Eiweiß, die Speckstreifen kurz vorm Anbrennen. Graupensuppe, Gans mit Soße, Leber mit Zwiebeln, Wein, Bier, Gin, Schweinsfüße, Kutteln, ge
röstetes Brot mit Bratenfett. Mrs Linvers Milchpudding mit einer schönen braunen Kruste obendrauf. Sahne auf meiner Zunge. Himbeeren, rubinrot, mit Zucker bestäubt, die Kerne knirschen zwischen meinen Zähnen. Saft spritzt. Da draußen auf der Straße, vor dem Laden des Konditors in der Back Lane –
»Es ist meine Schuld«, sagte Skip.
Er sagte das so häufig, dass es wahr wurde. Ja, dachten wir. Wenn er den Drachen nicht freigelassen hätte. So viel Tod, und alles ist deine Schuld. Nicht, dass wir böse auf ihn waren. Wäre sinnlos. Es war Gott, auf den alle böse waren. Blitz und Donner. Die blöden Wellen mit ihrer überflüssigen Gemeinheit. Wir ritten auf einem Monster.
»Hör auf damit«, sagte Tim lustlos.
»Entschuldigung«, sagte Skip.
Welchen Tag haben wir? Es geht immer weiter, ein Tag und noch ein Tag und noch ein Tag, bis zu dem Tag, an dem Kapitän Proctor sagte, wir müssten die Portionen noch einmal verkleinern. Wilson Pride lachte. Ich habe ihn nur dieses einzige Mal lachen sehen, ein kräftiges, glucksendes Lachen, das fast sein Gesicht zerriss und uns alle zum Mitlachen brachte, als wäre diese erneute Rationierung ein großer Witz. Kapitän Proctor opferte seinen Ledergürtel. Herzlich wenig, womit sich ein Feuer machen ließ. Wilson riss ein paar Blätter aus Skips Zeichenheft, um die Flammen in Gang zu bringen, und kochte den Gürtel in einem der Eimer, ließ ihn mit etwas Wasser darin brodeln, sehr, sehr sparsam jetzt mit dem Wasser. Es roch wie in der Gerberei. Bermondsey auf dem Ozean. Er sagte, wir sollten aber nicht den Gürtel essen, und verteilte nur das Kochwasser, dunkel und leicht verbrannt und bitter, ein Getränk heiß wie Feuer, das durch die überraschte Speiseröhre lief. Das und meine Portion dazu, alles in allem war es keine schlechte Nacht, die folgte. Ich schlief angenehm. Das schöne heiße Getränk ruhte in meinem Magen, ein wonnig summendes Wohlgefühl, mit dem ich
durch meine Träume trieb, fröhliche Wanderungen durch fremde Welten machte, die ineinander übergingen, immer weiter wucherten, eine in und aus der anderen, zu Hunderten und Aberhunderten.
Nachts wachte ich auf und hörte, wie Dan mit Yan redete. Die Boote waren miteinander vertäut. Beide Männer lagen in ihren Hecks und unterhielten sich leise.
»Wie Feuer«, sagte Yan.
»Wo denn?«
»Hier.«
»Wie sind deine Knöchel?«
»Grauenhaft.«
»Nicht besser geworden?«
»Hier, guck.«
Dan bewegte sich. Ein kurzes Schweigen, dann kam: »Du lieber Gott!«
»Jetzt weißt du Bescheid«, sagte Yan.
»Wir könnten Abel gebrauchen. Der kannte sich mit so was aus.«
»Welcher Tag ist heute?«
»Tag 47.«
»Bist du sicher?«
»Ganz sicher.«
»Wetter ändert sich.«
»Lieber Gott, lass es regnen.«
Er tat es, aber erst bei Einbruch der folgenden Nacht, und wir füllten die Eimer und tranken. Erster Schluck, noch einer, dann mehr, endlich trinken.
»Das reicht«, sagte Dan.
Seine Hand auf meiner, sanft, eingefallen.
»Siehst du«, sagte er, »irgendetwas taucht immer auf.«
Am Morgen erwachten wir beim trägen Gejaule der Fiedel. Kratz kratz, der Klang verlor seine Süße, war aber immer noch
seltsam schön, der Ton heiserer. Irgendetwas geschah mit der Fiedel. Wahrscheinlich das Salz, das alles Übrige ja auch angriff.
»Aua!«, sagte Simon. »Taugt nichts.«
Dan schüttelte mich.
»Auf, Jaff«, sagte er.
Ich fühlte mich leicht, als könnte ich zum Himmel hinaufschweben.
»Hoch, Jaff.«
Er zog mir die Decke weg. Ich konnte nichts sehen. Blind, die volle Sonne voll in meinen Augen.
»Ruhig.« Dans Hand.
Ich stieß gegen Tim.
»Pass doch auf!«, fauchte der.
Ich würgte. Nichts kam. Die Dinge wurden deutlicher.
»Los, Jaff«, sagte Gabe, »nimm dein Ruder.«
Ein gewaltiges Gähnen schüttelte mich. Ich hangelte mich hoch. Skip saß neben mir und weinte, mit seinem Mondgesicht war es für immer vorbei. Es sah
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