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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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Boots und zupfte ständig an seinen geschwollenen Augenlidern. Sein Gesicht sah so grobschlächtig totenkopfähnlich aus wie immer, aber seine Arme und Beine waren inzwischen dicke rosa Schinken mit vielen rot entzündeten Geschwüren. Ich hatte ebenfalls Geschwüre, große, brennende, wütende Dinger – eins in der Kniekehle, eins hinten am Schenkel und das schlimmste im Nacken.
    »Weißt du, was komisch ist?«, meinte Tim, »ich hab jetzt mehr Hunger als vorher.«
    »Ich auch«, sagte ich.
    »Das ist so«, sagte Dan. »Grämt euch nicht, wir haben reichlich für mindestens zehn Tage.«
    Zusammen mit unserem Zwieback bekamen wir einen Streifen Fleisch zum Frühstück. Ich achtete darauf, dass meiner sehr lange hielt. Dan summte eine Melodie, er hing im Bug, die Arme ums Holz gelegt. Als unsere Augen sich begegneten, zwinkerte er. »Alles gut, Jaff«, sagte er. »Alles ganz wunderbar.«
    Immer noch steckten der Kapitän und Dan gelegentlich die Köpfe zusammen und konferierten miteinander, als gäbe es irgendetwas zu tun, dabei unternahmen wir, was das Navigieren betraf, kaum noch etwas. Skip grinste und brummelte, und manchmal lachte er irgendwie müde. Tim schimpfte und fluch
te. Gabriel murmelte Gebete, die in meinen Ohren wie wehmütiges rhythmisches Summen klangen. Simon war einfach nicht da. Sein Körper war natürlich anwesend, aber er spielte nie mehr auf seiner Fiedel und sprach und bewegte sich nur noch, wenn er musste. Er blickte kaum auf, als uns eine Weile lang ein Hai verfolgte oder als es im Westen donnerte und Blitze lautlos über den Himmel zuckten. Dag kaute seine Nägel, obwohl so gut wie nichts mehr von ihnen übrig war. Ich dachte an Ishbels grässliche Hände. Die arme Ishbel. Wie hungrig musste sie gewesen sein, dass sie sich selbst so aufgegessen hatte. Es musste sehr wehgetan haben. Ich sah sie jetzt deutlich vor mir, und mit einem Schlag überfiel mich mein Zuhause, der Highway, die Docks, sie und ich und Tim, bettelnde Kinder in den Straßen.
    »Weißt du noch?«, fragte ich Tim.
    War mühsam zu sprechen mit diesem wattigen Kleister.
    »Natürlich«, sagte er, als könnte er meine Gedanken lesen. Dann beugte er sich vor, grinste und zauste meine Haare. »Na, du kleiner Hilfsmatrose?«, sagte er.
    Die Hitze drückte, hinderte am Denken.
    »Hörst du das?«, fragte Skip.
    »Was denn?«
    Gabriel lachte kurz auf. »Jetzt sind wir alle verrückt«, sagte er und betete weiter.
    »Hör doch.«
    Es war kein richtiges Geräusch. Eher die Art von Vibration in den Ohren, wenn tausend Meilen Leere darauf drücken. Eher ein Gefühl, als würden die Elemente uns an unseren Platz verweisen.
    »Seht mal da draußen«, sagte Dan. Er legte die Arme um Tim und mich. »Meine Jungs«, sagte er, und Tränen liefen ihm aus den braunen Winkeln seiner kleinen traurigen Augen. »Meine Jungs. Ich werde euch heil nach Hause bringen. Irgendwann
bald. Hab ich das nicht dem alten Jamrach versprochen, dass ich seine Jungs heil nach Hause bringe?«
    Irgendetwas ist im Busche. Das Meer verändert sich. Etwas Befremdliches, wie Zwielicht oder Unwetter, senkt sich über die Erde.
    »Kinder«, sagte Dan Rymer, mit Tränen im runzligen Gesicht.
    »Wie alt bist du, Dan?«, fragte ich.
    Er grinste. »Zweiundsechzig«, sagte er, »als ich das letzte Mal nachgesehen hab.«
    »Du bist sehr alt«, sagte Tim.
    Dan lachte. »Der alte Mann vom Meer!«
    Das Meer interessierte das nicht. Wir waren nichts.
    »Was ist das?«, fragte Dag.
    »Pscht!« Der Kapitän hielt sich die Augen zu.
    »Fasst euch an den Händen, Jungs«, sagte Dan, »wir trotzen diesem Ding gemeinsam.« Er war die Flügel, wir krochen darunter. Ich hörte etwas über den Wolken, eine Stimme oder viele, unmöglich zu sagen: ein menschliches, tierisches Ding, mehrstimmig, kindlich, wild wie ein schreiendes Baby. Nichts Wilderes denkbar.
    »Fasst euch an den Händen«, sagte er.
    Tim packte meine Hand. Sein Gesicht vor meinem, lächelnd, funkelnde Augen. »Jaffy«, sagte er, »alter Jaff.«
    »Gemeinsam, Jungs«, sagte Dan.
    Das Boot des Kapitäns kam näher.
    »Legt euch ins Zeug«, sagte eine Stimme.
    Das Geräusch von Holz, das auf Holz trifft.
    »Mr Rymer!«, rief der Kapitän herüber, »ist bei euch alles in Ordnung?«
    »Alles in Ordnung!«, erwiderte Dan.
    »Was glaubst du, was kommt da? Sturm?«
    Dan schnüffelte wie ein Hund. »Kommt«, sagte er.
    Das Geräusch schwoll in meinen Ohren und explodierte. Ich lehnte gegen Dans Arm. Seine Lippen waren an meinem

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