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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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leberfarben aus. Die Haut hing an seinem Schädel, auch wenn seine Augen noch Glanz hatten.
    »Alles in Ordnung, Skip?«, fragte ich ihn.
    Er nickte.
    Yan war in schlechter Verfassung.
    »Ihr seid fünf, und wir sind sechs«, sagte der Kapitän. »Könnt ihr noch einen nehmen? Dieser Mann hier muss liegen, wir brauchen mehr Platz.«
    Also kam Dag in unser Boot, und wir hatten mehr Tiefgang. Im Kapitänsboot streckte Yan sich aus wie ein Holzklotz. John Copper stöhnte und hielt sich den Bauch, fummelte seine Hose runter, hielt seinen dürren Arsch über die Bordwand und schiss dunkelgrünen Glibber ins Meer.
    Man musste nicht einmal mehr lenzen, so ruhig war es. Es gab nichts zu tun, außer sich hinzulegen und zu dösen. Aber man wacht immer wieder auf, das ist das Problem. Und immer
ist da jemand, der irgendwo stöhnt oder mit dem Mund ein widerliches Schmatzgeräusch macht, immer jemand, der flucht oder murmelt oder flüstert, immer jemand, der mit einem Schrei aus dem Traum hochschreckt. Und immer ist da das eigene Herz, das in den Ohren brabbelt, als würde es gleich platzen. Als es Abend wurde, wollte Yan sein Brot nicht nehmen. Stieß es weg. Wollte nicht mal trinken. Simon versuchte, ihm sein Wasser in den Mund zu gießen, aber er ließ es einfach vorbeilaufen. Wir aßen unsere Portionen und tranken unseren Anteil, und die ganze Zeit rührte Yan sich nicht, auch wenn irgendetwas in seinem Hals mahlte und man seine Augäpfel gespenstisch zucken sah, als wären seine Augenlider durchsichtig. Nach einer Weile hörte auch das auf, und dann legte der Kapitän seine Hand auf Yans Gesicht, fühlte den Puls an seinem Handgelenk und am Hals und fand nichts.
    »Tot«, sagte er.
    Es bedeutete gar nichts. Wir lagen einfach eine Weile mit dem toten Yan herum, dann sagte Simon: »Und was nun?«
    Der Kapitän seufzte.
    »Wir können seinen Gürtel benutzen«, sagte Wilson Pride. »Kommt gerade recht.«
    Ein weiteres langes Schweigen.
    »Der Brauch der Meere«, sagte Simon tonlos.
    »Nein.« Das war Gabriel.
    Tim sagte: »Wir könnten ja vielleicht . . .«
    »Nein«, sagte Gabriel.
    »Ich meine nicht . . .«
    »Nein.«
    »Ich meine Köder. Köder für Haie, dann könnten wir . . .«
    »Nein.«
    »Was für Haie?«, meinte Skip.
    Das stimmte, die Gewässer waren leer.
    »Wir könnten . . .«
    Der Kapitän machte eine Bewegung. »Wir werden ihn jetzt für die See vorbereiten«, sagte er schroff.
    Also lösten Simon und Wilson Yans Gürtel, um ihn am nächsten Tag auszukochen, und nähten Yan mitsamt seiner Kleidung ein, so wie wir es mit Mr Rainey gemacht hatten, und wir bestatteten ihn im Meer. Yan würde uns fehlen, aber wir hatten kein Wasser mehr für Tränen. Und wir waren ratlos, keiner von uns hatte irgendeine Vorstellung, was für eine Art Feier wir für seine asiatische Seele abhalten sollten. Keiner wusste, wie man es in seinem Land mit diesen letzten Dingen hielt. Also gab es wieder nur das Gemurmel des Kapitäns, ein Neigen unserer Häupter und geschlossene Augen. Ich schlief halb ein und bemerkte kaum, wie sie ihn ins Meer gleiten ließen. Als es dann abends Zeit für unser Gebet war, lautete es: »Oh Herr, wir sind zehn Seelen, die auf dem Meer treiben . . .«, und fast hätte ich gelacht. Wir sind zwölf, elf, zehn, neun, acht Seelen, die auf dem Meer treiben . . .
    Irgendwann muss diese grausige Rückwärtszählerei aufhören.
     
    Dag stieg danach zu den anderen hinüber, so dass wir wieder fünf an der Zahl waren. Jetzt war es John Copper, dem es immer schlechter ging, er hatte ständig Durchfall, und auch Gabriel sah nicht besonders gut aus. Eine leichte Brise wehte uns zwei oder drei Tage lang in die gewünschte Richtung und heiterte uns alle auf. Simon nahm seine Fiedel und kratzte eine Weile darauf herum, dann begannen wir alle zu singen. Zwar brachten wir kaum noch richtige Töne heraus, und auch die Fiedel konnte mittlerweile nicht viel mehr als krächzen, aber wir taten unser Bestes. Und unser Gesang wurde so etwas wie eine große Totenwache, eine fröhliche Totenwache. Wir hüpften nebeneinander über den mondbeschienenen Ozean, und die Welt war wunderschön. Tim und ich hielten uns an den Händen, und wir sangen,
so gut wir konnten. Nichts auf der Welt verbindet so wie ein Lied, und es führt zu der besten Sorte Tränen. Wir sangen, und Dan brummte mit uns mit, und das tat auch Dag, und zwar mit einer immer noch überraschend klaren Stimme. Gabriel legte den Kopf auf ein Kissen

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